Sankt Petersburg

Mittwoch, 8. September 2010

Lenas Welt

Mit meiner zweiten Gastfamilie in Petersburg hatte ich eindeutig Glück. Alle supernett. Meine Gastschwester Lena hat einen sagenhaften Sinn für Humor und ist auch sonst ein Unikum: hat deutsche Literatur studiert, verfasst Gedichte und Lieder, die sie auch auf Gitarre spielt, liebt Wagner und germanische Mythologie, schrieb ihre Dissertation über Nietzsche. (Und: NEIN, sie ist NICHT rechts!). In der Zeit, als ich bei Lena zu Besuch war, kam gerade ihr erster Gedichtband auf den Markt. Lenas Professor und Mentor, Alexei Georgewitsch, war sehr stolz auf seinen Schützling.

Und ganz in Petersburger Salon-Tradition organisierte er regelmäßig sogenannte „Leibelsche Lesungen“, zu denen er neben Lena auch andere junge Dichter einlud. Ich durfte auch kommen. Die Lesung fand in der Wohnung des Professors statt. Zunächst wurde dort im großen Stil getafelt und (zivilisiert) getrunken. Alexei Georgewitsch, gebürtiger Armenier, brachte vor jedem Anstoßen minutenlange pathetische Toasts aus, ganz nach kaukasischer Sitte. Nach dem Festmahl ging es ans Vorlesen. Auch ich konnte was beisteuern, hatte ich doch mein russischsprachiges Gedicht über den norwegischen Winter mitgenommen. Wir saßen eine ganze Weile gemütlich beisammen, dann gingen die älteren Herrschaften ins Nachbarzimmer, um alte Schallplatten zu hören. Ich ging mit den anderen in die Küche zum Aufräumen; wir hatten jede Menge Spaß. Fazit: Russische Dichter sind viel unkomplizierter, als ich angenommen hatte.

Einer der Teilnehmer war Vadim, Lenas damaliger Freund. Ich lernte ihn etwas besser kennen, da er mehrmals bei Lena zu Besuch war, wurde aber nicht richtig schlau aus ihm: Wenn Professor Alexei Georgewitsch in der Nähe war, versuchte er, Vadim, krampfhaft, sich akademisch perfekt auszudrücken – selbst bei belanglosen Alltagsgesprächen. War er aber mit Lena zusammen, ohne den Professor, so trieb sie nur ihren Schabernack mit ihm. Vadim dagegen ließ alles über sich ergehen und machte nur ab und zu einen verzweifelten Versuch, sich zur Wehr zu setzen. Es war die reinste Comedy. – Ich fragte mich: Wie ist dieser Typ, wenn ich mit ihm ALLEIN rede, ohne störende Einflüsse? Ich beschloss dies zu überprüfen, und rief ihn an. Unglaublich: Am Telefon wirkte er total nett, locker und unkompliziert. - Lena war fassungslos, als ich ihr nachher mitteilte: „Also, dein Vadim ist ja doch ein ganz normaler Mensch.“

Freitag, 20. August 2010

Kranke Stadt? Sankt Petersburg bei Turgenjew

»A–a–achtung!« schallte in meinen Ohren ein gedehnter Ruf. »A–a–a–achtung!« hallte es wie verzweifelt aus der Ferne zurück. »A–a–a–achtung«! erstarb es irgendwo am Ende der Welt. Ich sah hinab. Eine hohe vergoldete Spitze fiel mir in die Augen: ich erkannte die Peters-Paulsfestung.

Bleiche nordische Nacht! Ist es denn überhaupt eine Nacht? Ist es nicht eher ein bleicher kranker Tag? Ich habe die Petersburger Nächte niemals gemocht; diesmal wurde mir sogar ganz unheimlich zumute! Ellis' Gestalt verschwand vollständig, löste sich auf wie der Morgennebel in der Julisonne, und ich sah deutlich meinen Körper schwer und einsam in der Höhe der Alexandersäule in der Luft hängen. Das ist also Petersburg! Ja, das ist es wirklich. Diese breiten, öden, grauen Straßen, diese grauweißen, gelbgrauen, lilagrauen getünchten und abgebröckelten Häuser mit den eingefallenen Fenstern, grellen Ladenschildern, eisernen Wetterdächern über den Eingangstüren und den elenden Gemüseläden; diese Giebel, Aufschriften, Schilderhäuschen und Futterkasten; die goldene, an eine Kutschermütze erinnernde Kuppel der Isaakskirche; die überflüssige bunte Börse; die Granitmauern der Zitadelle und das aufgebrochene Holzpflaster; diese Barken mit Heu und Brennholz; dieser Geruch von Staub, Sauerkohl, Bast und Pferdestall; diese versteinerten Hausknechte in Schafspelzen vor den Haustoren; diese wie im Todesschlaf zusammengekrümmten Kutscher auf den schäbigen Droschken, – ja, das ist es, unser Nordisches Palmyra. Alles ist hell, alles ist unheimlich klar und deutlich zu sehen, und alles schläft einen traurigen Schlaf, sich als seltsamer Haufen in der dämmerigen, durchsichtigen Luft abzeichnend. Die Abendröte – eine schwindsüchtige Röte – ist noch nicht vergangen, und wird auch vor dem Morgen nicht vom weißen, sternlosen Himmel weichen; ihr Abglanz liegt auf der seidenschimmernden Fläche der Newa, die sich kaum bewegt und leise murmelt, ihre kalten, blauen Fluten vorwärts rollend ...

»Wollen wir doch von hier fortfliegen,« flehte Ellis.

Und ohne meine Antwort abzuwarten, trug sie mich über die Newa, über den Schloßplatz nach der Litejnaja. Unten erschollen Schritte und Stimmen: über die Straße kam ein Haufen junger Männer mit abgelebten Gesichtern; sie unterhielten sich von der Tanzstunde. – »Leutnant Stolpakow, Nummer sieben!« rief plötzlich ein verschlafener Soldat, der bei einer kleinen Pyramide verrosteter Kanonenkugeln Wache stand, und etwas weiter sah ich am offenen Fenster eines großen Hauses ein Mädchen in zerknittertem Seidenkleide ohne Ärmel, mit einem Perlennetze auf den Haaren und einer Zigarette im Munde. Sie las sehr andächtig in einem Buche; es war ein Band eines unserer modernsten Juvenale.

»Wollen wir von hier fortfliegen?« sagte ich zu Ellis.

Nach einer Minute zogen unter uns schon die faulenden Tannenwäldchen und Moossümpfe, die Petersburg umgeben, vorbei. Wir flogen gerade nach dem Süden: der Himmel und die Erde und alles wurde immer dunkler. Die kranke Nacht, der kranke Tag, die kranke Stadt – alles blieb hinter uns zurück.

Aus der Erzählung "Visionen" von Iwan Turgenjew (1818-1883)

Donnerstag, 19. August 2010

Petersburg rockt!

Meine Magisterarbeit schrieb ich über die russische Rockmusik. Um mich einzustimmen, beschloss ich, zuerst auf den Spuren des legendären Leningradski Rock zu wandeln. Ich steuerte die Rubinstein-Straße 13 an, wo 1981 der erste Rockklub der Stadt gegründet wurde. Ich trat in die Empfangshalle, schaute mich um. Keine Spur von Rockklub, hier war inzwischen ein Kinder-Theater angesiedelt. Eine Ticketverkäuferin älteren Datums beobachtete mich und ahnte offenbar, warum ich gekommen war. “Hier gibt es jetzt keine Rockmusik mehr, nur noch seriöse Musik”, sagte sie mit strenger Stimme und finsterem Gesicht. Dumme Kuh, dachte ich und ging hinaus, in den Hinterhof. Schaute mich um und war baff: Die Hauswände waren lückenlos vollgeschrieben - mit den Namen der bedeutendsten russischen Rockstars der 80er Jahre: Grebenschikow von Aquarium, Zoi von Kino, Schewtschuk von DDT, Kintschew von Alisa, Maik von Zoopark, Alexander Baschlatschow... Genial, dachte ich, hier waren sie alle! Aus irgendeinem Fenster hörte man amerikanischen Rock’n’Roll… Ein Hauch vergangener Zeiten lag in der Luft, ein Stück Rebellion aus zwei Staaten, die vor gar nicht langer Zeit verfeindet waren. Hier, an diesem Ort, waren sie vereint…


"Boogie Woogie" von Maik Naumenko und "Zoopark", eine der Leningrader Kultbands der 80er. Im Video gibt's ein paar Szenen aus dem oben erwähnten "1. Leningrader Rock-Klub", gegründet 1980/81.
(Autor: scaig)


Später schlenderte ich lange durch die Petersburger Buch- und Musikläden. Die interessantesten Musikläden fand ich nur zufällig, sie waren in Kellern und Hinterhöfen versteckt. Die Tickets für das “Aquarium“-Konzert waren zwei Wochen vor dem Konzert restlos ausverkauft (Spekulanten!), ich bekam nur noch eins auf dem Schwarzmarkt. Zumindest das Ticket für die Gruppe “Maschina Wremeni” kaufte ich auf legalem Wege.


Boris Grebenschikow und "Aquarium", Leningrader Kult-Band der 80er. Sind bis heute in Petersburg aktiv. Song: "Burlak" (Wolgatreidler). (Autor: TeodorFok)

Viktor Zoi dagegen, der 1990 in einem Autounfall ums Leben kam, konnte ich nur noch an seinem Grab besuchen. Den Bogoslowenski-Friedhof erkennt man recht schnell an seiner von zahlreichen Fans beschrifteten “Zoi-Wand”. Auch innerhalb des Friedhofs musste ich nicht lange suchen: Schon auf dem Hauptweg kamen mir Teenager in schwarzer Kleidung entgegen. Nie zuvor hatte ich so viele junge Leute auf einem Friedhof gesehen. Völlig klar, woher sie kamen. Sie waren an Zois Grab, hatten dort eine Minute schweigend gestanden und waren weitergegangen. Das Grab selbst sah sehr gepflegt aus, es war offensichtlich, dass sich ständig jemand darum kümmert. Ich erinnerte mich sogleich an das Grab von Jim Morrison, das ich 1997 in Paris gesehen hatte. Das sah nämlich sehr vernachlässigt aus, die Leute gingen daran vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen… Was ist da los? Ist der Doors-Sänger nicht weltweit eine Rocklegende?


Viktor Zoi von "Kino" im Film "Assa" von 1987. Songtitel: "Veränderungen!" Spiegelt gut die Aufbruchs-Stimmung der frühen Perestroika-Jahre wider. (Autor: MayaZlatogorka)

Es blieb mir nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn es näherte sich der Höhepunkt meines Petersburg-Aufenthaltes. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, meinen Lieblingssänger zu interviewen. Lange nervte ich meine Gastfamilie mit dem Satz: “Ich muss mal telefonieren”, und nach dreiwöchiger Tortur kriegte ich endlich Juri Schewtschuk ans Telefon, den letzten Mohikaner des Russian Rock. “Rufen Sie am Montag 12 Uhr noch mal an” sagte er liebenswürdig zu mir. Das war immerhin besser als nichts. Montag früh saß ich schon in der Küche und starrte auf’s Telefon. Meine Gastschwester Lena steckte den nassen Kopf zur Tür rein: “Aschenputtel, es ist noch nicht um zwölf…” Ha-ha, von wegen, Aschenputtel und der Prinz… Aber auch um zwölf Uhr war nix: “Rufen Sie später noch mal an, er ist noch nicht da“, wurde ich vertröstet. Endlich, gegen halb drei, hatte ich Schewtschuk wieder am Telefon: “Heute 18 Uhr, bei mir im Studio.” - Da stand ich nun um 18 Uhr in einem Hinterhof, war mir über die Hausnummer nicht sicher, klammerte nervös die Hände um den Blumenstrauß. Im Hof standen einige Männer und rauchten. Der eine fragte: “Wo willst du hin?” - “Ach nichts, ich seh mich nur um.” Dann sah er meine Blumen und lachte: “Schewtschuk ist nebenan…” Zwei Minuten später betrat ich die Küche des DDT-Studios, drückte dem DDT-Sänger die Hand, er goss mir ein Glas Tee ein… Merkwürdig: Vor mir stand ein ganz normaler Mensch, nicht das gottähnliche Wesen, das die Fans aus ihm gemacht haben. Auch die Küche sah irgendwie normal aus, russisch eben, ein bisschen wie meine Wohnheimküche in Kiew. Und ich konnte mir nur sehr schwer vorstellen, das mit mir genau DER Mensch sprach, dessen ungewöhnlichen Songtexte und expressive Stimme mich in den letzten Jahren völlig durcheinandergebracht hatten. Interessant war es, sein Gesicht zu beobachten, wenn er über sich und seinen geliebten russischen Rock sprach. Er schien völlig in sich gekehrt zu sein, aber seine Augen leuchteten. Als er sagte: “In drei Tagen beginnen wir unsere Tournee durch Mütterchen Russland”, bemerkte ich ein Funkeln in seinen Augen, das sowohl Sorge als auch Liebe auszudrücken schien: Sorge um Russland? Liebe zu Russland? Beides? Gut möglich, denn in vielen seiner Songtexte scheinen sich die größten Widersprüche Russlands zu vereinen: Tragik und Schönheit…


Juri Schewtschuk und "DDT", Konzert in Petersburg. Song: "Osen" - "Herbst", bekanntestes Lied der Gruppe. Zwischendurch wird mal über die Zukunft Russlands philosophiert ("Was wird aus der Heimat? Was wird aus uns?") und das Publikum aufgefordert: "Lasst euch nicht manipulieren!" (Autor: cu3off)

Wochen später. Wir trafen uns in Petersburg, ich, mein deutscher Kollege und einer seiner russischen Freunde, Maxim. Die beiden plauderten lange über gemeinsame Erlebnisse, und ich langweilte mich. Irgendwann aber begannen die beiden von ihren Begegnungen mit russischen Rockstars zu prahlen. Beide hatten sie sich auf Konzerten in Deutschland mit Boris Grebenschikow und Sergei Schnur fotografieren lassen. Maxim erzählte noch freudestrahlend, dass er einmal Slawa Butusow persönlich zum Geburtstag gratuliert hatte. Ich saß dabei, hörte zu und ärgerte mich über diese Angebereien. Plötzlich kam mir jedoch eine Erinnerung: eine russische Küche, zwei Gläser Tee, ein Mann mit Bart und Brille, der freundlich mit mir plauderte... Mir wurde klar, dass ich mit DER Story alles bisher Erzählte um einiges übertrumpfen konnte. So ganz nebenbei berichtete ich nun also den beiden, dass ich kürzlich den ruhmreichen Jurij Schewtschuk in seinem Studio besucht und interviewt hatte. Maxim konnte es nicht fassen. Aber immerhin hatten wir ein gemeinsames Thema gefunden und hechelten nun alle möglichen Petersburger Rocklegenden durch. Jetzt war es mein Kollege, der gelangweilt vor sich hin stierte.

Tage später. Ich beschloss, Juri Schewtschuk noch einmal in seinem Tonstudio aufzusuchen, um ihm meine ins Russische übersetzte Magisterarbeit zu überreichen. Mein deutscher Kollege und ich, wir fuhren also in die Stadt, trennten uns in der Stadt, ich ging Richtung Studio, er Richtung Reisebüro. Wir verabredeten uns für eine Stunde später in einem Cafe. Als ich endlich ins Studio kam, wurde ich zwar gnädig vom Pförtner empfangen, aber von dem alten Rock-Hero war keine Spur zu sehen. "Der ist im Dorf und schreibt Gedichte", bekam ich zu hören, als ich nach Schewtschuk fragte. Ich wurde von einem der Tonregisseure an den Tisch gebeten. Dort saßen einige Leute und machten sich gerade daran, die Sektflaschen zu öffnen. Ich hatte offenbar den richtigen Zeitpunkt erwischt. Da saßen wir nun also, tranken Sekt, unterhielten uns, und ich erfuhr ein paar Schnurren aus dem Leben von Schewtschuk. Der Tonregisseur präsentierte uns stolz das neue DDT-Album und erzählte ein paar Storys über die Arbeit an der CD. Mir wurde immer wieder Sekt nachgeschenkt, und so merkte ich nicht, wie die Zeit verging. Mein deutscher Kollege musste nun schon einige Stunden im Cafe auf mich warten... Als ich mich dann endlich losriss, verabschiedete und ging, kam mir mein Kollege entgegen, völlig nervös. Ich dagegen, halb betrunken, plauderte über meine Erlebnisse. "War Schewtschuk denn da?" - "Nein. Der ist grade im Dorf und schreibt Gedichte." -Mein Kollege schaute mich entsetzt-vorwurfsvoll an: "Als ich im Cafe war und auf dich wartete, hätte ich auch Gedichte schreiben können."

Drei Jahre später. Wladiwostok. Wohnheim. Miree (Norwegerin) und ich sichteten meine russische CD-Sammlung. Miree: “Hier, schau mal, mit diesem Sänger hier, dem Juri Schewtschuk, habe ich mich mal unterhalten.” – “Ach ja, ich auch.” Verwunderter Blick von Miree, dann fuhr sie fort: “Ich habe mit ihm Whisky getrunken.” – “Und ich – Tee.” Verblüffung auf beiden Seiten. Als ich Nastia davon erzählte, war ihr einziger Kommentar: “Armer Schewtschuk.”

Dienstag, 17. August 2010

Stadtansichten

Mit meiner ersten Petersburger Gastfamilie hatte ich ja nicht gerade das große Los gezogen. Um diese nicht unnötig durch meine Anwesenheit zu belasten, hielt ich mich so wenig wie möglich bei denen auf. Ich fuhr also allein in die Stadt, bummelte ziellos durch Bücher- und Musikgeschäfte, Cafés, Museen, Kirchen, streunte durch die Straßen um den Newski und an allen möglichen Kanälen entlang. Manchmal fuhr ich mit S-Bahn und Mini-Bussen raus an die Ostsee und zu den alten Zarenschlössern. Nachher kannte ich mich wahrscheinlich besser mit dem öffentlichen Nahverkehr aus, als meine Mitstudenten, die von ihren Gastfamilien mit dem Auto durch die Stadt kutschiert wurden. Petersburg ist aber auch wirklich bombastisch. Das Zentrum ist das reinste architektonische Freilichtmuseum, und fast alles ist wunderbar zu Fuß erreichbar. Jedes einzelne Gebäude im Zentrum atmet Geschichte. Du wandelst durch die Straßen, ein Palast reiht sich an den nächsten, dann läufst du immer wieder mal an Kanälen vorbei, an Brückenköpfen in Form von Löwen, Sphinxen, Pferden und anderen Gestalten. Man fühlt sich ein bisschen wie in Amsterdam, Paris oder Venedig.


Winter in St. Petersburg. (Autor: Andron3)

Bei allem Protz und Prunk: Ich selbst sah das Zentrum eher mit gemischten Gefühlen: Die riesigen Prachtgebäude jagten mir manchmal Angst ein, vor allem in den Nebenstraßen westlich des Newskis. Irgendwo hatte ich gelesen, man hätte sie extra so gebaut, um dem “kleinen” Menschen zu zeigen, wie nichtig er ist. Außerdem machte es sich bemerkbar, dass ich wohl zu viel russische Literatur und Petersburger Kulturgeschichte gelesen hatte: Gerade in Winternächten, wenn ich durch das tiefverschneite und spärlich beleuchtete Zentrum streunte, beschlich mich ständig das Gefühl, dass alle möglichen Petersburger Künstler, Dichter, Schriftsteller, deren Helden und andere Stadtlegenden wie Gespenster auf eben diesen Häusern sitzen, mit dem Finger auf mich zeigen und über mich lachen. Oder einfach die Straßen entlang fliegen.


Herbst - Puschkin - Petersburg. Song: "Im letzten Herbst". Musik und Text: Juri Schewtschuk/DDT (Autor: Only4Russian)

Mit Lena, meiner Gastschwester, besuchte ich eine ihrer Freundinnen, die mit ihrer Mutter unweit des Newski-Prospekt wohnt. Beide sind Künstlerinnen. Als wir die Wohnung betraten und ich mich umsah, war mir zunächst etwas unheimlich zumute: Die Zimmer waren dunkel, die Fenster klein, die Möbel uralt, und überhaupt lag da ziemlich viel altes Zeug rum, so als hätte seit Großmutters Zeiten niemand mehr etwas weggeworfen. Nach Licht dürstend, ging ich zum Fenster und sah hinaus - auf die Dächer des alten Petersburg. Unklare Assoziationen stiegen in mir auf, und ein Bild setzte sich schließlich durch: Dostojewskij. Ich glaubte mit einem Mal, die Stadt so vor mir zu sehen, wie er oder seine Helden sie gesehen haben mochten. Waren die Wohnungen damals etwa auch so eingerichtet? Befremdlich, unheimlich, aber auch faszinierend war dieses Gefühl. “Wie alt ist dieses Haus?” fragte ich die Gastgeberin. “Etwa einhundert Jahre”, war die Antwort. Meine Schätzung schien zu stimmen. “Ich hoffe, dir ist es hier nicht unheimlich” fügte sie hinzu. “Nein, warum? Es ist interessant. Man spürt einen Hauch vom alten Petersburg.” - “Ja, das stimmt, und weißt du was? In der Wohnung genau unter uns traf sich regelmäßig das “Mächtige Häuflein”, die Komponisten-Gruppe, du weißt schon, Rimski-Korsakow und andere…”


Neujahrsnacht in Leningrad. Szene aus: "Ironie des Schicksals", sowjetischer Kult-Film von 1975. Gesungen von: Sergei Nikitin
(Autor: Imsk)


An einem Juni-Abend war ich mit anderen Studenten zuerst im Ballett und nachher in einer Bar. Nach Mitternacht gingen wir zu Fuß zurück zum Hotel, am Newa-Ufer entlang. Meine erste Weiße Nacht - nie zuvor hatte ich eine solche Zusammensetzung von Farben gesehen: ein orange-rosa leuchtender Himmel, davor die Konturen der goldenen Nadelspitze der Peter-Pauls-Festung und vereinzelter Möwen. Auf der anderen Seite des Flusses zogen sich die Palast-Fassaden entlang wie an einer pastellfarbenen Perlenkette, die in rosarotes Licht getaucht ist. Und überall schrien die Möwen…


Weiße Nächte. (Autor: eyagudin)

Und so sieht Johanna Petersburg - von den Smolny-Türmen aus:
"Der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Die Stadt liegt in der Tiefe, sie zieht sich gen Horizont. In der Ferne verschwindet Sankt Petersburg in seinem ganz normalen Smog, die einzelnen Gebaeude sind nicht mehr so deutlich zu erkennen. Grau-braune Schemen. Ich sehe, ganz weit weg, Schornsteine. Grosz, prominent, haesslich. Ein Stueck links davon die Silhouette einer riesigen Kirche, zwieblig. Farblos, imposant. Daneben wieder Schlote. Duzende Kraene. Hafen? Baustelle? Weiter links blinkt mir eine der zahllosen Kuppeln der Stadt, im richtigen Winkel von der Sonne bestrahlt, golden entgegen. Dann: Vierecke. Das werden Wohnblocks sein. Daneben glitzert es wieder. Wenn man laenger hinguckt, blendet es fast. Noch weiter links wieder Kraene, dann ein ganz groszer Kasten. Eine Fabrik? Schornsteine, Zwiebeln, Glitzern, Graubraun.
Ich gehe zur anderen Seite auf der Aussichtsplatform, gucke an der frisch restaurierten, abartig glanezenden goldenen Zwiebelkuppel vorbei auf die Newa und auf 1960-er-Jahre-Sowjetbauten. Komische Stadt." (www.auswaerts.twoday.net)

Der nymfomane Professor

Petersburg. Unsere Ausländergruppe hatte Unterricht bei einem gutaussehenden und charmanten Literaturprofessor, kompetent und – zumindest in den ersten Wochen – sehr nett. Das Problem war aber seine Haremswirtschaft, die sich wie ein Spinnennetz durch das Institut zog, mit Ausläufern in Nachbarstädte. Im Grunde war das nicht zu übersehen, zumindest für die Aussenstehenden. Blöd nur, dass auch meine Mitstudentin Conny ihm in die Fänge ging – trotz Warnungen von mir und den anderen Sprachschülern. In jeder Literaturstunde himmelten die beiden einander an. Als aber unser Professorchen einmal zum Unterrichtsbeginn die Werke von Harold Pinter erwähnte und Conny darauf hin zaghaft fragte: “Wer?”, war sie bei ihm sofort unten durch: “Wie jetzt, sind Sie etwa nicht hochgebildet? Das ist ein berühmter Dramen-Autor und wurde schon mehrmals für den Nobelpreis nominiert!!!“ donnerte er sie an. Michael murmelte genervt: “Muss man den kennen?” - “An unseren russischen Unis kennt jeder Harold Pinter, selbst der lausigste Physik-Student…Schaut selbst ins Internet, auf der Diskussions-Seite in meiner Yandex-Mailbox ist Pinter im Moment das Top-Thema”, blaffte der Professor zurück. – Matthias wagte zu unterbrechen: “Worüber hat der Gute denn geschrieben, dass er solche Aufmerksamkeit bekommt?” – “Über den Tod.” – Ach so. Der Professor warf uns der Reihe nach verächtliche Blicke zu und setzte fort mit seiner russischen Literaturgeschichte. Conny war an diesem und an den folgenden Tagen überhaupt nicht ansprechbar, sie zog sich völlig zurück. Matthias begann aber noch am selben Nachmittag im deutschen Internet zu recherchieren. Über Pinter fand er nur kurze allgemeine Informationen, er wurde aber in keinem Forum diskutiert. Irgendwie schien sich niemand für den zu interessieren. “Den Prof mach ich fertig”, meinte Matthias zu uns früh am nächsten Tag. Stunden später, als wir uns alle in der Mensa trafen und Borsch löffelten, erzählte er uns: In der ersten Pause hatte er sich Conny geschnappt und war mit ihr ohne anzuklopfen in den Lehrstuhl gestürmt, wo der Professor gerade mit seiner hübschen, aber sehr kindlich wirkenden Doktorandin schäkerte. “Erstens”, raunzte Matthias Richtung Professor, “verlange ich, dass Sie bei uns solches überflüssige Wissen ala Pinters Werke nicht pauschal voraussetzen. Zweitens: Lassen Sie die Finger von Conny, die gehört zu mir.” – Die Turtelnden liessen sofort voneinander ab. Professor, Doktorandin und Conny schauten einander mit schreckverzerrten Gesichtern an. – Am gleichen Abend sassen wir Sprachkurs-Leute mit zwei russischen Zimmernachbarn in unserer Wohnheim-Küche zusammen, Conny immer noch etwas bleich. Wir assen Pelmeni, tranken Tee und unterhielten uns über den Tag. Kyrill, unser Geologie-Student, reagierte richtig sauer: “Ist man also ein Mensch zweiter Sorte, nur weil man diesen Pinter nicht kennt? Und was ist eigentlich mit der Freiheit? Ich lese, was ich will. Mich interessieren zum Beispiel Sachen wie Polargeschichte. Und das ist nun mal ein Thema, von dem die meisten Leute überhaupt keine Ahnung haben.” – Einige von uns murmelten zustimmend. Mascha, unsere Biochemie-Studentin, meinte nach einer Weile: “Wisst ihr, es gibt eine Menge Russen, die eine gute wissenschaftliche Ausbildung und ein enormes Wissen über Weltkultur haben, aber sich mit Jobs abfinden müssen, in denen sie extrem niedrig bezahlt werden. Das macht sie natürlich verbittert. Wenn sie dann bei ihrer Arbeit mit westlichen Touristen oder Studenten zu tun haben, und vor allem mitbekommen, dass diese materiell besser dastehen, kriegen sie Minderwertigkeitskomplexe und versuchen diese mit Überheblichkeit zu überspielen. Sowas passiert leider immer wieder.” – Das wirkte irgendwie einleuchtend. So langsam beruhigten wir uns wieder, ich schenkte mehr Tee ein und legte eine neue CD auf. Fast andächtig hörten wir: “Schneesturm”, die aktuelle Rock-Ballade von DDT, und sangen leise den Refrain mit: “Spiel, wie du nur kannst, spiel, schliess die Augen und kehr zurück…” Als das Lied zuende war, hörten wir draussen tatsächlich den Wind pfeifen… Nur langsam kehrten wir in die Realität zurück. Zwei Tage später, wir sassen in der Mensa, kam Michael aus dem Internet-Raum angespurtet und erzählte:”Ich habe heute früh unter meinen englischen Kommilitonen und den Biologie-Doktoranden-Kollegen meiner Schwester eine Umfrage gestartet: Wer kennt Harold Pinter? Antwort: Niemand!!!” – “Grade die Biologen, die sich doch für den Tod interessieren müssten”, grinste ich, und Conny lachte zaghaft. Na also, dachte ich, sie ist schon fast übern Berg. Wenige Tage später, genau eine Woche nach dem Pinter-Vorfall, erwartete uns eine Überraschung am Institut: Zur Literaturvorlesung erschien ein neuer Lehrer – eine Frau…

Montag, 16. August 2010

Pseudo-Intelligentsia

Meine erste Petersburger Gastfamilie wurde mir als was Besonderes vorgestellt: Der Vater - Wissenschaftler, die Tochter - Student am Konservatorium, der Sohn - Tanzlehrer, die Mutter - Direktor einer Schule. Es stellte sich aber bald heraus: Die Mutter ist ein hysterischer Tyrann, Tochter und Sohn reden nicht mit mir. Das einzig nette Wesen war der Hund.

Dieser Hund war eine Laika. Ein Schlittenhund in einer Neubauwohnung, 10. Stock. Diese Viecher brauchen eigentlich viel Bewegung, aber egal. Das gute Tier hielt sich hauptsächlich in der Küche auf. Wenn es am Tisch vorbeilief, konnte es passieren, dass es diesen gebogenen Schwanzes abwischte. Gassi-Gehen war nicht jeden Tag angesagt. Einmal hab ich das übernommen - der Hund tat mir einfach Leid.

Da saß ich mal in der Wohnung dieser Gastfamilie und wartete auf einen Anruf. Ging nicht: Die Tochter telefonierte stundenlang und kochte in der Zwischenzeit mein Abendbrot. Als sie fertig war mit Telefonieren, waren meine Nudeln zerkocht, die Mutter kam heim und meckerte, die Tochter maulte.

Ein anderes Mal sass ich in der Küche und telefonierte ich mit meiner Mutter. Der Sohn meiner Gastfamile fragte mich nachher: "Hast wohl mit deiner besten Freundin telefoniert?" - "Nein, mit meiner Mutter. - Wieso?" - "Ihr redet so nett miteinander." - "Na und, wie redest du denn mit deiner Mutter?" - "Wir schreien uns nur an.“.

Übrigens, meine Gast“mutter“ hielt sich für eine Vertreterin der Intelligentsia, wie sie mir gegenüber betonte. Folgendermaßen äußerte sich das: Einmal bekam sie Besuch von einem älteren Herrn. Sie setzten sich in die Küche, und er erzählte ihr mit glänzenden Augen von den neuesten Publikationen der amerikanischen Puschkin-Forschung. Das war ein flammender Vortrag, den er permanent mit dramatischen Gesten unterstrich. Meine intellektuelle Gastmutter starrte ihn an, als ob er Japanisch spricht, nickte automatisch alle fünf Sekunden, ohne ihn zu unterbrechen oder Fragen zu stellen. Offenbar hatte sie kein Wort verstanden.

Sonntag, 15. August 2010

Skurrile Begegnungen

* Das Toiletten-Personal in Petersburg schien mich nicht zu mögen: Als ich im Historischen Museum vom Stillen Örtchen kam, sah ich plötzlich eine Klofrau, die vorher nicht da war. Sie schaute mich herausfordernd an und tippte auf einen Teller mit Kleingeld. Ich fragte: "Wie viel?" – "Wenn Sie Russe sind - zwei Rubel. Wenn nicht, dann so viel, wie Sie können." - Ich knallte ihr stumm zwei Rubel hin und ging… Im Ermitage erging es mir nicht viel besser: Ich fragte höflich die Klofrau, ob es denn kein Papier gibt. Sie keifte mich an: „Was erwarten Sie eigentlich alles von einer Gratis-Toilette?“

* In der Straßenbahn sah ich einmal eine Frau, die einen riesigen Spinnen-Anstecker an der Bluse hatte. Ich starrte das Ding eine Weile an, dann sprach sie mich an: “Woher sind Sie?” - Ich gab meine Standard-Antwort: “Raten Sie mal.” - “Doch nicht etwa aus Bulgarien?” fragte sie mit leicht aggressiver Stimme. Nach der ersten Verwunderung dachte ich: Na wenigstens scheine ich einen slavischen Akzent zu haben. Meine Antwort, ich käme aus Deutschland, beruhigte sie offenbar. Dann sagte sie mir, man hätte besser Deutschland mit Russland vereinen sollen. Dass es in der UdSSR viel besser gewesen war, weil man faulenzen konnte, soviel man wollte, schließlich zwang einen ja niemand zum Arbeiten. Dann zeigte sie mit dem Finger auf den Block, in dem sie wohnte, erklärte mir, dass sie zwei unverheiratete Töchter hätte, und lud mich zu sich nach Hause ein. Ich ergriff eilends die Flucht.

* Ich sah einen Bankschalter am Straßenrand und ging hin, um Geld zu wechseln. Die Bankangestellte saß gerade vor dem Computer und spielte in aller Ruhe Tetris. Als ich sanft ans Fenster klopfte, schreckte sie hoch, schaute mich mit bedauernder Miene an und entschuldigte sich. Es stellte sich heraus, dass sie kein Geld wechseln konnte. Sie wandte sich also wieder ihrem Tetris-Spiel zu. Eine Sekunde später erschien ein Mann in Militärkleidung in ihrem Raum, und ich dachte, jetzt macht er sie fertig. Denkste. Er stellte sich derart vors Fenster, dass ich außer seinem breiten Kreuz nichts mehr sehen konnte, starrte auf den Bildschirm und rief begeistert: "Jaaa! Jetzt dahin! und jetzt dorthin!"

* Ich fuhr mit der Metro. Mir gegenüber saß eine Frau – breitbeinig, mit schwarzen Leggins. Genau zwischen den Beinen klaffte ein großer, ovaler Schlitz, sodass man ihre dunkelblaue Unterhose sah. Da saß sie und kratzte sich eine ganze Weile genüsslich diese Stelle.

* Dies hier ist nicht direkt eine Begegnung – allenfalls auf Schallwellen-Ebene. Auf dem Finnischen Bahnhof hörte ich folgende Durchsage: "Werte Passagiere! Von Ihrem Verhalten hängt die Laune unserer Mitarbeiter ab."

Samstag, 14. August 2010

Generationskonflikt

Petersburg-Exkursion mit Slavistik-Studenten. Auch dabei: Russisch-Dozenten, Durchschnittsalter: 60. Gleich am ersten Tag fand die obligatorische Bus-Stadtrundfahrt statt. Da ich die Highlights von Petersburg von meiner vorherigen Reise kannte, war diese Fahrt nicht allzu spannend für mich. Was mich und auch die anderen bei dieser Busfahrt nervte, war die Reiseleiterin: Sie sprach konsequent Deutsch, obwohl wir sie alle baten, Russisch zu sprechen. Außerdem: Sie redete viel, aber sagte nichts. Sie konnte stundenlang über die Garderobe von Katharina der Großen plaudern, sich dann dabei kurz unterbrechen und wie nebenbei bemerken: “Übrigens, das Gebäude, an dem wir gerade vorbeigefahren sind, ist der Gostinnyj Dvor.“ Ein nicht unwichtiges Gebäude, mitten auf der Prachtstraße von Petersburg, aber spielt ja keine Rolle. Als die gute Frau gerade erwähnte, wie viel hundert Paar Schuhe im Besitz Katharinas der Großen gewesen waren, schien unsere auf Landeskunde spezialisierte Russisch-Dozentin endlich eine Gelegenheit zu sehen, ihr Fachwissen anzubringen: “Plus Accessoires!” rief sie triumphierend. – Die Studenten zeigten an diesem Fachgespräch nicht das geringste Interesse, sondern maulten: “Können Sie nicht endlich Russisch reden?”

Am Schlossplatz, vor dem Ermitage, machte die Reiseleiterin eine zehnminütige Pause - “zum Fotografieren und Aufs-Klo-Gehen”. Ich beschloss, die Zeit sinnvoll zu nutzen, lief hinüber zum Newskij-Prospekt und stürmte in den erstbesten Buchladen. Ich hatte das Glück, dort einen wahren Schatz zu finden: “100 Tonbandkassetten des sowjetischen Rock”, ein Buch über die Aufzeichnung russischer Rockmusik in sowjetischen Underground-Tonstudios. Ich kaufte es sofort und machte mich auf den Rückweg. Am Schlossplatz angekommen, wurde ich sogleich von den Studenten umringt und musste ihnen meinen Fund zeigen. Meine Russisch-Dozenten starrten mit einer Mischung aus Misstrauen und Vorwurf erst auf das riesige Buch und seinen Titel, dann auf mich, gerade so, als hielte ich die aktuelle Ausgabe des “Playboy” in der Hand. Wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich dieses Buch für meine Magisterarbeit über die russische Rocklyrik brauche, hätten sie mich wahrscheinlich auf der Stelle gesteinigt.

Die Isaaks-Kathedrale stand auf dem Programm. Die deutschsprachige Reiseleiterin führte uns durch das Gebäude und redete dabei mit einer Stimme, die an einen plätschernden Bach erinnerte. Der monotone Singsang machte mich schläfrig, und ich blieb auch ein wenig hinter der Gruppe zurück. Dadurch hörte ich auf einmal die Stimme einer anderen, russischsprachigen Reiseleiterin. Was mir an ihr sofort auffiel, war die aufrichtige, nicht vorgespielte Begeisterung in ihrem Erzählen, und die Fähigkeit, den Vortrag in gesundem Maße mit ungewöhnlichen Anekdoten zu würzen. Beim Zuhören wurde mir regelrecht warm ums Herz. Nach einer Weile bemerkte ich, dass auch andere aus unserer Studentengruppe Lunte gerochen hatten: Immer mehr seilten sich von der deutschsprachigen Gruppe ab und liefen zur russischsprachigen über. Die Studenten und ich, wir standen im Kreis, hörten zu und schauten einander mit großen Augen und offenen Mündern an. Alle diese Gesichter schienen dasselbe zu sagen: Wow, ist das schön… So ganz nebenbei schaute ich mich dann auch nach dem Rest der Gruppe um, der dem deutschsprachigen Guide treu geblieben war. Natürlich: Das waren all die Leute, die nicht gut genug Russisch konnten, und - unsere Dozenten.

Für den nächsten Tag wurde eine Bustour zu den Schlössern Zarskoe Selo und Peterhof angekündigt. Ich ahnte, was uns erwartet, und seilte mich heimlich ab. Schließlich hatte ich beide Schlösser schon gesehen. Außerdem gab es ein Schloss in der Nähe, das ich noch nicht besucht hatte: Oranienbaum. Dort wollte ich hin. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln! - Ich liebe die Petersburger S-Bahn, gerade im Sommer: Die Sonne scheint herein, es ist heiß, du bekommst Durst, und plötzlich kommt eine Babuschka vorbei, die Eis verkauft. So geschah es auch diesmal. Ich fragte die ältere Dame höflich, ob ich mir das Eis anschauen könnte, das sie da im Korb trug. Sie fuhr mich sofort an: “Was für eine Unverschämtheit, ich habe Ihnen doch gesagt, was ich verkaufe, was wollen Sie da noch in meine Tasche schauen!” Ich entschuldigte mich, sagte, dass ich Ausländerin sei, dass ich die Sorten nicht kenne, die sie da aufgezählt hatte. Plötzlich wurde die Dame sehr lieb und freundlich, entschuldigte sich bei mir und zeigte mir bereitwillig ihre Eistruhe. Als sie gegangen war und ich mein soeben gekauftes Eis auspackte, sagte mein Banknachbar mit einem Seitenblick auf mich: “Wahnsinn, die hat sich sogar bei Ihnen entschuldigt. Sowas kommt selten vor. Sie können stolz darauf sein.” - Ich kam also in Oranienbaum an und ging im Schlosspark spazieren. Es war traumhaft: Herrlich warm, Sonne, blauer Himmel, keine Menschen weit und breit – und von weitem sah ich das Meer. Ich genoss den schönen Nachmittag und fuhr vergnügt zurück nach Petersburg. Dort traf ich die übrigen Studenten, die sich über die gerade durchgestandene Mammut-Exkursion aufregten: “Zwei riesige Schlösser hintereinander an einem Tag, noch dazu mit Führungen - das ist viel zu viel. Und die Reiseleiterin ist total arrogant, die hatte solche Bemerkungen abgelassen wie: Wir Russen sind sooo toll, wir sind besser gebildet als ihr, bei uns macht ja jeder Philosophie-Pflichtkurse an der Uni, aber bei euch nicht. - Und überhaupt”, regten sich die Studenten auf, “wir fahren die ganze Zeit mit diesem blöden Bus durch die Gegend, als wären wir Rentner.“ Ich erzählte ganz nebenbei von meinem selbstorganisierten Oranienbaum-Ausflug, und die Studenten betrachteten mich voller Neid: “Mensch, muss das spannend sein, selbst zum Bahnhof zu fahren und sich auf Russisch ein Ticket zu kaufen. Und dann das Erfolgserlebnis, endlich das Ticket in der Hand zu haben… und sich in der S-Bahn mit den Leuten zu unterhalten… das ist doch ein echtes Abenteuer…”

(Anmerkung: Mir hatten mal Kiewer Studenten erzählt, wie bei ihnen an der Uni die obligatorischen Philosophie-Kurse ablaufen: Man muss mehrere Hausarbeiten schreiben. Die Studenten meinen, für diesen Philosophie-Schnickschnack keine Zeit haben zu müssen. So wird fröhlich aus diversen Büchern abgeschrieben, Wort für Wort. Ohne Quellenangabe, versteht sich. Da die Dozenten die Hausarbeiten nicht lesen, ist es kein Problem, den Kurs zu bestehen.)

Unsere Studenten-Gruppe begann langsam, aber sicher zu zerfallen: Die Dozenten beschlossen, bei Regen eine Bootstour über die Kanäle zu machen. Ich entschied mich mit einigen anderen Studenten, das Heumarktviertel anzuschauen – genau die Gegend, in der Dostojevskis „Schuld und Sühne“ spielt. Wir kamen auf die Idee, auf den Spuren von Raskolnikov zu wandeln. Praktischerweise hatte eine der Studentinnen einen alternativen Reiseführer einstecken. Mit dessen Hilfe fanden wir schnell das Wohnhaus von Raskolnikov und das Haus der Wucherin. Bei unserem Spaziergang stießen wir auch auf die Puschkinskaia 10, ein alternatives Kulturzentrum, in dem die Petersburger Künstler-Rocker-Dichter-Avantgarde ein- und ausgeht. So ganz zufällig trafen wir dort einen amerikanischen Künstler, der uns gleich in ein Gespräch verwickelte. Wir ließen den Nachmittag in einem Cafe ausklingen und waren sehr zufrieden mit unserer unorthodoxen Stadttour.

Am letzten Abend gingen die Dozenten geschlossen in ein Kammerkonzert, während ich es schaffte, die Studenten in ein Rock-Festival zu locken.

Zwei Wochen später trafen sich alle Studienreise-Teilnehmer am Institut, wo die Dozenten eine kleine Feier im Stil “Deutsch-Sowjetische Freundschaft” aufgezogen hatten: Tee aus dem Samowar, Dias aus Len…, pardon, Petersburg… Das einzige, was bei dieser (n)ostalgischen Veranstaltung fehlte, waren Matrjoschkas und bemalte Holzlöffel auf den Tischen. Einer unserer Studenten wagte es zu rebellieren, indem er Musik einer alten Petersburger Rocklegende auflegte - Boris Grebenschikov. Eine unserer Dozenten explodierte förmlich: “Oh Gott, das klingt ja fürchterlich! Schaltet das sofort aus!” Niemand reagierte. Die Dozentin murmelte was von einem “Generationskonflikt”. Die Musik mussten wir schließlich doch ausschalten: Die Dozenten teilten Kopien mit den Liedtexten von “Kalinka”, “Katjuscha” und den “Moskauer Nächten” aus, den musikalischen Kanon des Instituts, und zwangen uns zum Singen.

Anno 2003, nur wenige Jahre später. Flughafen Berlin-Schönefeld. Ganz zufällig sah ich dort meine alten Dozenten, zusammen mit einer anderen Studentengruppe. Während mich erstere demonstrativ ignorierten, fand ich schnell Kontakt zu letzteren. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe gerade von einer Moskau-Exkursion zurückgekehrt waren. Aber so ganz zufrieden schienen die Studenten nicht zu sein. „Stell dir vor“, jammerten sie mir vor, „wir wollten zum Moskauer Stadtfest, aber unsere Dozenten waren dagegen: Es stand ja die Tretiakov-Galerie auf dem Programm, also hätten wir da gefälligst alle hinzugehen. Und beim Moskauer Stadtfest, meinten die Dozenten, wäre ja erfahrungsgemäß sowieso nichts los. Unseren Vorschlag, die Tretiakov-Galerie am nächsten Tag anzuschauen, schmetterten sie ab - Plan ist Plan. Wir gingen also nicht zum Stadtfest, sahen aber dann im Fernsehen, dass die Feier total gigantisch gewesen war. Wir fragten unsere Dozenten: "Wann sind Sie eigentlich das letzte Mal in Moskau gewesen? – Antwort: "1985...“

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Goldene Kuppeln und Kastanien
Kiew. Mutter der russischen Städte und Jerusalem des...
Kaggi-Karr - 26. Sep, 00:48
Russen über Russland
So, jetzt vergesst mal, was unsere deutschen Leitmedien...
Kaggi-Karr - 26. Mai, 01:22
Das Reißverschluss-Problem
An meinem Wintermantel war der Reißverschluss kaputt....
Kaggi-Karr - 30. Mär, 17:04
Leider immer wieder aktuell
Das letzte Kapitel Am zwölften Juli des Jahres zweitausenddrei lief...
Kaggi-Karr - 5. Mär, 13:37
Gleichgültigkeit
Weder der Krieg, noch der internationale Rüstungshandel, weder...
Kaggi-Karr - 5. Mär, 13:32

Suche

 

Status

Online seit 5027 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 26. Sep, 00:48

Credits


Aktuelles
Kiew
Norwegen-Russland-Pendeln
Norwegische Tundra
Russland
Sankt Petersburg
Wladiwostok
Zitate und Gedichte
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren