Mittwoch, 18. August 2010

Russen über Russland

So, jetzt vergesst mal, was unsere deutschen Leitmedien über Russland zu berichten wissen.

Um Russland zu verstehen zu können, sollte man sich auch klarmachen, was Russen selbst über den Zustand ihrer Gesellschaft denken.

Ich habe hier ein paar Zitate dazu zusammengestellt. Quellen: Aussagen von meinen russischen Freunden und Bekannten, russische Bücher und das russische Internet. Es sind auch ein paar Zitate aus dem 19. Jh dabei, die aber, wie ich finde, auch heute zutreffend sind.

Eins vorweg: Man muss nicht allem zustimmen, man muss auch nicht alles verstehen. Zugegeben, einige der Äußerungen sind verdammt harter Tobak. Aber: Mit Hilfe dieser kleinen Zitatensammlung kann man, glaube ich, zumindest ansatzweise verstehen, wie Russland „tickt“.



Über Politik

Mit Politik kann man in diesem Land nichts verändern. Wenn ein ehrlicher Politiker, der wirklich was verbessern will im Land, versucht, sich in den russischen Machtstrukturen hochzuarbeiten, wird er entweder auf halbem Wege abgeschossen oder wird mit der Zeit genauso korrupt wie alle anderen. (Studenten, 20)

Über Protest

Die Jugend in Russland ist heute aktiver als früher. In Wladiwostok haben schon mehrere Kundgebungen stattgefunden, als Protest gegen das Verbot japanischer Autos in der Stadt. Da sind viele Menschen unterschiedlichen Alters erschienen, die Straßen waren sogar abgeriegelt. Und dergleichen findet nicht nur in Wladiwostok statt. Solche Aktionen finden überall in Russland statt. Das Fernsehen berichtet nicht darüber, aber im Internet findest du alles. (V., 22, Doktorand).

Die Oppositionellen sind Heuchler. Nemtsow, Schewtschuk, Limonow, Kasparow, Chodorkowski. Das sind pro-amerikanische Marionetten. Die sind gekauft. Haben schließlich alle nur ein Thema: Freiheit und Demokratie. (youtube-Kommentar)

Da haben wir so viele Oppositionelle. Über die Machthaber meckern sie rum, aber keiner hat konkrete Ideen, was man anders machen könnte. Ich hätte zwar eine Idee, wie man die Korruption bekämpfen könnte: Selbst keine Schmiergelder geben! Fragt sich aber, ob da überhaupt jemand mitmachen würde… (youtube-Kommentar)

Über Freiheit

Freiheit im heutigen Russland, das bedeutet: Jeder kann jeden berauben oder töten, ohne bestraft zu werden. So eine Freiheit brauchen wir nicht. (V., 20, Angestellter)

Wir haben mehr Meinungsfreiheit als die Europäer. Wir können lautstark über Schwarze, Moslems und Schwule lästern, ohne dass uns jemand dafür bestraft. (J.,40, Literaturprofessor)

Wir haben mehr Freiheiten als die Norweger. Wir dürfen nämlich rauchen, wo wir wollen. (K., 35, Anwaltsgehilfe)

Hier in Russland gibt’s mehr Freiheit als im Westen. Bei uns fehlen nämlich moralische Regeln. (J., 40, Missionar)

Die Freiheit der Persönlichkeit
Ist das heilige Recht
Jedes Individuums,
Sich so teuer wie möglich zu verkaufen.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über Demokratie

- ”Demokratie” in der deutschen Wikipedia: Eine sehr ausführliche und eindeutige Definition von Demokratie im wissenschaftlichen Stil. Ein bisschen schwingt da auch mit: Wir sind stolz darauf, mit dazuzugehören.
- ”Demokratie” in der russischen Wikipedia: Es werden verschiedene Varianten von Demokratie aufgelistet und erläutert, mit Hinweis darauf, in welchen Ländern die jeweiligen Varianten vorkommen. Das Fazit: Eine ideale Demokratie gibt es nicht.

Demokratie auf russisch: Wenn alle das machen, was der Haupt-Demokrat sagt. (www.anekdot.ru)

Über Wahlen

Demokratische Wahlen: Vor dir liegen fünf Scheißhaufen, einen davon musst du fressen. Welchen nimmst du? (www.anekdot.ru)

Eine Wahl ohne annehmbare Alternativen sind keine Wahl, sondern Zwang. (www.anekdot.ru)

Über Revolution

Klar gibt es viele Probleme in Russland, aber eine Revolution wollen wir nicht. Bloß das nicht. Revolutionen haben bisher nur Leid und Elend über Russland gebracht. Nein, wir wollen eigentlich nur in Ruhe unser Leben leben. (A., 45, Meeresbiologe)

In der Welt gibt es das, was wir wollen – nein!
Wir glauben, wir sind imstande, sie zu ändern – ja!
Aber!
Revolution, du hast uns gelehrt, an die Ungerechtigkeit des Guten zu glauben. Wie viel Welten haben wir schon niedergebrannt im Namen deines heiligen Feuers.
(J. Schewtschuk /DDT. Lied: "Revoliutsia". Album: "Ja poluchil etu rol", 1988)

Über das russische Imperium

- V.: Wir Russen unterstützen unsere Machthaber. Wen denn sonst? Bei uns hat sich nun mal so eine Mentalität entwickelt: Die Machthaber sind schlecht, aber notwendig, um die Menschen zu einen. Wir können doch nicht gegen unsere eigene Regierung Krieg führen. Es sollte nur einiges verändert werden im Land.
- Ich: Kann man die Russen nicht auf andere Weise vereinen? Ihr habt doch so viel gemeinsam: die Sprache, Geschichte, Literatur, Religion, das Territorium…
- V.: Im Laufe der Geschichte mussten wir ständig kämpfen, um unser Land zu verteidigen. Deshalb braucht Russland eine Regierung, die in einem gewissen Grad autoritär ist. Das Volk hat das verstanden. Heute ist es genauso: Wenn es keine starke Macht gibt, könnte das Land in viele Teile zerfallen und wie eine Beute geteilt werden. Es ist einfach viel zu viel Land für ein nicht gerade großes Volk. Das ist nun mal das Schicksal von Russland, das kann man schwer zurückdrehen.
- Ich: Und wozu braucht ihr so viel Land? Ist doch viel zu schwer zu verwalten. Die Eroberung Sibiriens hättet ihr euch sparen können.
- V.: Warum denn, die Eroberung Sibiriens war doch eine geniale Entscheidung. Schau dir die Geschichte an. Byzanz ist gefallen, aber wir haben ein Imperium geschaffen, das die orthodoxe Tradition von Byzanz bewahrt und weitergeführt hat. Ansonsten wäre davon nichts übrig geblieben. Natürlich ist es schwierig, ein so großes Land zu verwalten. Aber das ist so schön zu fühlen, dass all das einem gehört – der Ural, die Taiga, Sibirien, ein Stück Europa, und die großen Flüsse… All das ist im Bewusstsein der Menschen.
- Ich: Aber wozu braucht ihr ein Imperium?
- V.: Na und, wir Russen sind nicht die einzigen, die ein Imperium wollten. Denk an die USA, England, Frankreich (Napoleon), Deutschland, China. Viele Länder haben versucht oder versuchen immer noch, Imperien zu errichten. Zur Errichtung des russischen Imperiums war viel weniger Blutvergießen notwendig als bei anderen Imperien. Wir sind stolz auf unsere großen russischen Heerführer, auf die Natur und unser arktisches Land. Das ist ein Teil unserer Kultur, unseres Bewusstseins, unserer Mentalität. Wenn all das verschwindet, so verschwinden wir auch.
(Aus meinem Chat mit einem russischen Literaturwissenschaftler, 25)

Über Korruption

Die Machthaber sind immer genauso korrupt wie das Volk. (youtube-Kommentar)

An der Korruption in Russland sind wir eigentlich selber schuld, noch mehr als Putin. Wir alle nehmen Schmiergeld! Wohin man auch schaut: bei den Machthabern, auf den Straßen, in Krankenhäusern, in Schulen, an Instituten – wir! Nicht die Außerirdischen. Und solange wir alle so eine “Kultur” in uns haben, wird niemand die Situation ändern können. Weder wir, noch Putin. (youtube-Kommentar)

Über Tschetschenien

Gespräch mit meiner Gastfamilie. Gastvater: “Die Tschetschenen sind das größte Übel, die sollte man alle umbringen”. Ich, nach einer Schocksekunde: “Mensch, gebt denen ihre Unabhängigkeit, dann werden die euch schon in Ruhe lassen.” – “Nein, das tun sie nicht. Sie fallen immer wieder über Russland her. Und erst wenn wir das Böse mit Stumpf und Stiel ausrotten, kehrt Ruhe ein.” Es begann eine erhitzte Diskussion. Ich plädierte für lebenslängliche Gefängnisstrafe für ausgewiesene Terroristen, mein Gastvater argumentierte dagegen. Wir fanden keinen Konsens, ich wollte das Thema friedlich abschließen, aber mein Gastvater fing immer wieder von vorne an. Meine Gastschwester, die eine Weile zugehört hatte, war inzwischen mehr als genervt. Sie wandte sich zuerst an mich, dann an ihren Vater: “Wärst du in Russland aufgewachsen und du in Europa, dann würdet ihr genauso diskutieren, aber mit vertauschten Meinungen.” Damit verließ sie die Küche; mein Gastvater und ich blieben sprachlos zurück. (Petersburg, 2001)

Als ich im Hostel ankam, war in meinem Viererzimmer gerade eine Frau Ende dreißig drin, lange Haare, irgendwie komisches langes Baumwollkleid, keine Schminke. Man kommt ins Gespräch, ich erzähle, dass ich vor dem Rauch geflüchtet bin. Darauf sie: "Das waren die Tschetschenen."
"?"
"Die Tschetschenen haben die Wälder angezündet."
"Meinen Sie?"
"Ja."
"Und warum sollten die Tschetschenen die Wälder anzünden?"
"Die sind so."
(Aus Johannas Petersburg-Blog: www.auswaerts.twoday.net)

Über Putin

Im Westen werde ich oft gefragt, was ich von Putin halte. Blöde Frage. Ich habe zu ihm das gleiche Verhältnis wie zu Muscheln: Sie sind mir gleichgültig. (A., 45, Meeresbiologe)

Die Jelzin-Zeit war chaotisch. Keine stabile Regierung, und der Präsident dauernd besoffen. Aber Putin Ordnung und Stabilität ins Land gebracht.
(A., 20, Studentin )

Danke, Putin! Dafür, dass du unser Land aus dem Abgrund hochgezogen hast. Dass du den Patriotismus in unserem Land wiederherstellst. Dass du dafür sorgst, dass die Welt respektvoll auf Russland schaut. Dass du die westlichen Länder zwingst, Russlands Meinung zu berücksichtigen. Schrecklich sich vorzustellen, was wäre, wenn an Putins Stelle ein anderer stände. (youtube-Kommentar)

Rock-Konzert in Moskau. Der DDT-Sänger singt mit der Stimme eines Herolds: ”Putin reitet durch das Land, auf silbernem Pferd. Putin hilft allen Menschen, gebe ihm Gott Gesundheit. Er bestraft die Banditen und schenkt den Arbeitern Wodka ein. Putin reitet durch das Land, aber wir sitzen weiter in der Sch…..”. Das Publikum schreit das fehlende Wort am Ende. Unmittelbar danach der Kommentar des Sängers: ”Im Grunde geht es nicht um Putin, sondern um uns alle. Kein guter Zar wird uns je helfen.” (DDT. Album: "Gorod bez okon. Vyhod", 2004)

Über Despotie

In Rußland besteht der Despotismus noch, weil er das Wesentliche meiner Regierung ist, aber er steht im Einklang mit der Volksgunst. (Nikolaus I., russischer Zar (1796 - 1855). Quelle: zu Astolphe de Custine, La Russie en 1839, 13. Brief)

Ein Sklave träumt nicht von der Freiheit, sondern davon, Sklavenhalter zu sein. (Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über die russische Geschichte

Das Lebender Russen ist armselig. Aber: Wie reich ist dagegen unsere Geschichte!
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Solange unsere Gesellschaft krank ist, bleibt die Geschichte Russlands die Geschichte einer Krankheit.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über Gastfreundschaft

Gast sein ist cool: Alles für lau.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über Individualismus

Lös dich nicht vom Kollektiv, sonst löst sich das Kollektiv von dir.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über die Zukunft

Morgen geht es uns besser, als übermorgen.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über Kriminalität

Wenn bei uns was gut organisiert ist, dann ist das die Kriminalität.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Über Gesetze

In Russland lebt man entweder gut - oder nach dem Gesetz.
(www.anekdot.ru)

Über Russland

Es gibt zwei Freuden in Russland – die Dummköpfe und die Wege. Ohne sie wären wir ein gewöhnliches europäisches Land.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Russland kann sich in zwei Richtungen entwickeln:
In die schlimmstmögliche oder in eine unwahrscheinliche.
(Antiposlovitsy, antipogovorki novogo russkogo naroda. Minsk 2007)

Russland ist für uns wie eine Mutter. Zwar alt, krank und verschroben und vielleicht geistig nicht ganz fit. Aber eben unsere Mutter. Darum lieben wir es. (S., 20, Angestellte)

Über Russland und Europa

Ich erzählte einer russischen Bekannten: ”Eine Familie war mit ihrem fünfjährigen Kind an der norwegisch-russischen Grenze. Sagte dort zum Kind: 'Wenn du nicht artig bist, schaffen wir dich zu den Russen.' Das Kind bekam Angst.“ -
„Haha, gut so. Wer Angst vor Russland hat, respektiert es auch.“
Ich konnte mir eine böse Bemerkung nicht verkneifen: „Wenn Russland mit dem Säbel rasselt, findet das der Westen eher lächerlich.“ - Kurze Pause, dann die siegessichere Antwort: „Das wird sich bald ändern.“ (O., 27, Religionswissenschaftlerin)

Der Westen ist entartet. Homo-Ehen und Migranteninvasion, Liberalismus überall. Und wer liest schon noch klassische Literatur in Europa? Fast niemand. Das klassische Europa beginnt in Russland. (V., 30, Jurist. Bekennender Rechtsradikaler)

Wir wissen jetzt, daß wir keine Europäer sein können, daß wir nicht imstande sind, uns in eine der westlichen Lebensformen zu pressen, die Europa aus seinen eigenen nationalen Prinzipien heraus geschaffen und erlebt hat, Prinzipien, die uns fremd und zuwider sind. (Fjodor Michailowitsch Dostojewski, russischer Schriftsteller (1821 - 1881). Quelle: Ankündigung seiner Zeitschrift "Wremia", 1860)

Da Rußland seiner inneren Wesensart nach der europäischen Welt fremd ist, da es zudem allzu stark und mächtig ist, um den Platz eines der Mitglieder der europäischen Familie einzunehmen, um eine von den europäischen Großmächten zu sein, vermag es nicht anders eine seiner und des Slawentums würdige Stellung in der Geschichte einzunehmen, als indem es zum Haupte eines besonderen, selbständigen politischen Staatensystems wird und Europa in seiner ganzen Gemeinschaft und Ganzheit zum Gegengewicht dient. (Nikolai Jakowlewitsch Danilewski. russischer Kulturhistoriker (1822 - 1885) Quelle: Rußland und Europa (1871))

Über den russischen Nationalcharakter

Verstand wird Rußland nie verstehn,
Kein Maßstab sein Geheimnis rauben;
So wie es ist, so laßt es gehn -
An Rußland kann man nichts als glauben.

Der kühle, wägende Verstand
Kann Rußlands Wesen nicht verstehen;
Denn daß es heilig ist, dies Land,
Das kann allein der Glaube sehen.

(Fjodor Tjutschew, russischer Dichter, 1802 - 1873)

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