Dienstag, 17. August 2010

Stadtansichten

Mit meiner ersten Petersburger Gastfamilie hatte ich ja nicht gerade das große Los gezogen. Um diese nicht unnötig durch meine Anwesenheit zu belasten, hielt ich mich so wenig wie möglich bei denen auf. Ich fuhr also allein in die Stadt, bummelte ziellos durch Bücher- und Musikgeschäfte, Cafés, Museen, Kirchen, streunte durch die Straßen um den Newski und an allen möglichen Kanälen entlang. Manchmal fuhr ich mit S-Bahn und Mini-Bussen raus an die Ostsee und zu den alten Zarenschlössern. Nachher kannte ich mich wahrscheinlich besser mit dem öffentlichen Nahverkehr aus, als meine Mitstudenten, die von ihren Gastfamilien mit dem Auto durch die Stadt kutschiert wurden. Petersburg ist aber auch wirklich bombastisch. Das Zentrum ist das reinste architektonische Freilichtmuseum, und fast alles ist wunderbar zu Fuß erreichbar. Jedes einzelne Gebäude im Zentrum atmet Geschichte. Du wandelst durch die Straßen, ein Palast reiht sich an den nächsten, dann läufst du immer wieder mal an Kanälen vorbei, an Brückenköpfen in Form von Löwen, Sphinxen, Pferden und anderen Gestalten. Man fühlt sich ein bisschen wie in Amsterdam, Paris oder Venedig.


Winter in St. Petersburg. (Autor: Andron3)

Bei allem Protz und Prunk: Ich selbst sah das Zentrum eher mit gemischten Gefühlen: Die riesigen Prachtgebäude jagten mir manchmal Angst ein, vor allem in den Nebenstraßen westlich des Newskis. Irgendwo hatte ich gelesen, man hätte sie extra so gebaut, um dem “kleinen” Menschen zu zeigen, wie nichtig er ist. Außerdem machte es sich bemerkbar, dass ich wohl zu viel russische Literatur und Petersburger Kulturgeschichte gelesen hatte: Gerade in Winternächten, wenn ich durch das tiefverschneite und spärlich beleuchtete Zentrum streunte, beschlich mich ständig das Gefühl, dass alle möglichen Petersburger Künstler, Dichter, Schriftsteller, deren Helden und andere Stadtlegenden wie Gespenster auf eben diesen Häusern sitzen, mit dem Finger auf mich zeigen und über mich lachen. Oder einfach die Straßen entlang fliegen.


Herbst - Puschkin - Petersburg. Song: "Im letzten Herbst". Musik und Text: Juri Schewtschuk/DDT (Autor: Only4Russian)

Mit Lena, meiner Gastschwester, besuchte ich eine ihrer Freundinnen, die mit ihrer Mutter unweit des Newski-Prospekt wohnt. Beide sind Künstlerinnen. Als wir die Wohnung betraten und ich mich umsah, war mir zunächst etwas unheimlich zumute: Die Zimmer waren dunkel, die Fenster klein, die Möbel uralt, und überhaupt lag da ziemlich viel altes Zeug rum, so als hätte seit Großmutters Zeiten niemand mehr etwas weggeworfen. Nach Licht dürstend, ging ich zum Fenster und sah hinaus - auf die Dächer des alten Petersburg. Unklare Assoziationen stiegen in mir auf, und ein Bild setzte sich schließlich durch: Dostojewskij. Ich glaubte mit einem Mal, die Stadt so vor mir zu sehen, wie er oder seine Helden sie gesehen haben mochten. Waren die Wohnungen damals etwa auch so eingerichtet? Befremdlich, unheimlich, aber auch faszinierend war dieses Gefühl. “Wie alt ist dieses Haus?” fragte ich die Gastgeberin. “Etwa einhundert Jahre”, war die Antwort. Meine Schätzung schien zu stimmen. “Ich hoffe, dir ist es hier nicht unheimlich” fügte sie hinzu. “Nein, warum? Es ist interessant. Man spürt einen Hauch vom alten Petersburg.” - “Ja, das stimmt, und weißt du was? In der Wohnung genau unter uns traf sich regelmäßig das “Mächtige Häuflein”, die Komponisten-Gruppe, du weißt schon, Rimski-Korsakow und andere…”


Neujahrsnacht in Leningrad. Szene aus: "Ironie des Schicksals", sowjetischer Kult-Film von 1975. Gesungen von: Sergei Nikitin
(Autor: Imsk)


An einem Juni-Abend war ich mit anderen Studenten zuerst im Ballett und nachher in einer Bar. Nach Mitternacht gingen wir zu Fuß zurück zum Hotel, am Newa-Ufer entlang. Meine erste Weiße Nacht - nie zuvor hatte ich eine solche Zusammensetzung von Farben gesehen: ein orange-rosa leuchtender Himmel, davor die Konturen der goldenen Nadelspitze der Peter-Pauls-Festung und vereinzelter Möwen. Auf der anderen Seite des Flusses zogen sich die Palast-Fassaden entlang wie an einer pastellfarbenen Perlenkette, die in rosarotes Licht getaucht ist. Und überall schrien die Möwen…


Weiße Nächte. (Autor: eyagudin)

Und so sieht Johanna Petersburg - von den Smolny-Türmen aus:
"Der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Die Stadt liegt in der Tiefe, sie zieht sich gen Horizont. In der Ferne verschwindet Sankt Petersburg in seinem ganz normalen Smog, die einzelnen Gebaeude sind nicht mehr so deutlich zu erkennen. Grau-braune Schemen. Ich sehe, ganz weit weg, Schornsteine. Grosz, prominent, haesslich. Ein Stueck links davon die Silhouette einer riesigen Kirche, zwieblig. Farblos, imposant. Daneben wieder Schlote. Duzende Kraene. Hafen? Baustelle? Weiter links blinkt mir eine der zahllosen Kuppeln der Stadt, im richtigen Winkel von der Sonne bestrahlt, golden entgegen. Dann: Vierecke. Das werden Wohnblocks sein. Daneben glitzert es wieder. Wenn man laenger hinguckt, blendet es fast. Noch weiter links wieder Kraene, dann ein ganz groszer Kasten. Eine Fabrik? Schornsteine, Zwiebeln, Glitzern, Graubraun.
Ich gehe zur anderen Seite auf der Aussichtsplatform, gucke an der frisch restaurierten, abartig glanezenden goldenen Zwiebelkuppel vorbei auf die Newa und auf 1960-er-Jahre-Sowjetbauten. Komische Stadt." (www.auswaerts.twoday.net)
auswaerts - 19. Aug, 20:26

Rezension

Toller Text. Gut, dass Du ihn wieder reingestellt hast. Mitgerissen, abgetaucht, eingetaucht - ein mehrminütiger Ausflug in eine andere Welt. Ich verbleibe sprachlos.

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