Donnerstag, 12. August 2010

Chris, der Nervenstarke

Einer der begeistertsten Russlandfahrer ist Chris, mein finnischer Kollege. Mit seinem VW und gebrochenem Russisch fährt er nahezu jedes Wochenende nach Russland. Sein Interesse spannt sich von Billig-Tanken, Essen gehen, Club-Besuchen bis hin zu Frauen kennenlernen. Montags auf Arbeit konntest du todsicher sein, dass er seinen männlichen Kollegen von seinen Russland-Besuchen berichtet. Und freitags – dass er dir von seinen neuen Reiseplänen erzählt. Chris ist übrigens nicht wählerisch: Neben Murmansk peilt er sämtliche Kleinstädte und Dörfer der Kola-Halbinsel an. Seine Hauptsorge gilt der Strassenqualität und den Öffnungszeiten an der Grenze. Zudem neigt er dazu, sich zu wiederholen. Ich weiss nicht, wie oft er mich schon gefragt hat, ob ich schon in Kandalakscha war und wie die Strasse dorthin beschaffen ist. Chris ist auch unglaublich geduldig. Auf einer seiner Fahrten nahm er neue Reifen mit, die er in einer Murmansker Autowerkstatt wechseln wollte. An der Grenze wurde er samt Reifen zurückgeschickt und kam Stunden später glücklich, aber ohne Reifen auf die russische Seite. Einziges Problem: An der russischen Zollstation gab es keine Migrationszettel mehr. Chris reiste also ohne ein. Im Murmansker Hotel wollte man ihn aber ohne diese Karte nicht übernachten lassen. Zudem war es nach 23 Uhr, an der Grenze anzurufen und nachzufragen hätte also nichts gebracht. Chris zog unverrichteter Dinge wieder ab. Und begann, die übrigen örtlichen Hotels abzugrasen. Erst im Meridian wurde er fündig. Man liess ihn grosszügig übernachten und erkundigte sich erst am nächsten Tag beim Russischen Zoll. Allerdings musste Chris einen fürstlichen Übernachtungspreis zahlen. Dieser Zwischenfall hinderte ihn allerdings nicht daran, weiter nach Russland zu fahren.

Einmal überredete mich Chris, mit ihm eine Wochenend-Spritztour nach Sapoliarny zu machen, einer russischen Kleinstadt kurz hinter der Grenze, die praktisch nur aus Neubaugebieten besteht. Wir starteten zeitig und fuhren gemächlich durch die winterliche norwegisch-russische Tundra. Mitten auf der Strecke gerieten wir in einen Schneesturm. Wir fuhren wie durch einen weissen Vorhang. Weder die Schlaglöcher noch die Böschung linker Seite waren zu sehen. Plötzlich begann es hinten im Auto zu poltern und anschliessend zu scheppern. Ohne die geringste Ahnung, was passiert war, fuhren wir mit gedrosseltem Tempo weiter. In Sapoliarny angekommen, untersuchten wir die Sache und fanden heraus, dass der Auspuff sich gelöst hatte und hinten herausbaumelte…

Vorläufig konnten wir nichts machen und fuhren daher erstmal zu unserer gemeinsamen Bekannten, einer jungen Lehrerin, Tanja, die in einer Schule in Sapoliarny auf uns wartete. Sie begrüsste uns freudestrahlend und meinte: „Wärt ihr nur eher gekommen, wir hatten heute Tag der offenen Tür.“ Dann zeigte sie uns die Schule, hauptsächlich die Fachkabinette: „In jedem Klassenzimmer hängen Bilder mit den staatlichen Symbolen aus: russische Fahne, Kreml und Putin-Porträt. „Das ist eine Anordnung von oben, wir können nichts dagegen tun.“ Was das Fachliche betrifft, hatte die Ausstattung des Physik-Kabinetts in etwa das gleiche Alter wie die in norwegischen Dorfschulen. Lediglich der Mathe-Raum war mit neuen Schulbänken und neuer Tafel ausgestattet: „Das ist eine Spende eines ehemaligen Schülers, aus Dankbarkeit für seine frühere Mathe-Lehrerin.“

Wir drehten noch eine Runde durch die übrigen Räume und fingen an zu überlegen, was wir mit dem kaputten Auto machen sollten. Tanja schlug vor, uns zur nächsten Autowerkstatt zu begleiten. Wir fuhren also hin, alles klappte wunderbar, der Auspuff wurde provisorisch repariert: „Hier muss was komplett ausgewechselt werden, das müssen Sie aber in Norwegen machen, wir haben die Ersatzteile nicht.“ Chris freute sich trotzdem, nämlich über den Preis: „In Norwegen hätte die Reparatur ein Vermögen gekostet.“

Es war längst Mittagszeit, und wir wollten mal richtig gut essen. Auf der Strasse fragten wir eine Frau, welches Restaurant sie uns empfehlen kann. Die Antwort war: „Mangal“, der „Grillspiess“. Irgendwo am Stadtrand gelegen. Wir bestellten ein Taxi, fuhren hin und bestellten uns als erstes kaukasisches Schaschlik. Dieses war köstlich wie immer: Grosse Fleischstücken, sehr lecker marininert und direkt auf der Grillplatte serviert, dazu gab es hausgemachten aserbaidshanischen Wein. Wir waren mitten beim Essen, als die Kellnerin uns unaufgefordert die Rechnung brachte. Wir liessen uns nicht stören, assen fertig und bestellten Eis zum Nachtisch. Die Kellnerin war ziemlich genervt, weil sie die Rechnung neu schreiben musste. Chris und ich hatten aber nach dem Eis noch Appetit auf Kaffee. Jetzt grade, dachte ich, und ging direkt zur Kellnerin. Die guckte mich entsetzt an: „Was denn, noch was?“ Wir bekamen den Kaffee, und ich merkte, dass mir das Kellner-Schikanieren Spass macht. Auch Chris schien sich zu amüsieren. Ich ging also nochmal zum Tresen und bestellte eine Flasche hausgemachten Wein. Meine Kellnerin verdrehte die Augen, ihre Kollegin dagegen erbarmte sich und holte den Wein. Es gab eine neue Rechnung, wir bezahlten und gingen. Später, in Kirkenes, erzählte ich einem russischen Bekannten davon. Der meinte: „Das ist sauschlechter Service, selbst am durchschnittlichen Service russischer Provinz-Städte gemessen. Aber Sapoliarny ist bekannt dafür. Frag mich echt, was euch ausgerechnet dorthin getrieben hat…“ – „Sag mal“, fragte ich, „inzwischen könnten Russlands Kellnerinnen doch kapiert haben, dass es für guten Service Trinkgeld gibt?“ - „Das haben die schon kapiert, aber diese 10-Prozent-Trinkgelder sind denen zum Überleben zu mager.“ - „Aber wir haben doch viel bestellt, das steigert doch den Umsatz? Wir haben dem Unternehmen was Gutes getan.“ – „Klar, aber die Kellnerinnen sind die letzten, die davon profitieren.“ – „Und wie kann ich die Bedienung dazu bringen, guten Service zu leisten?“ – „Ganz einfach: Gib denen das Trinkgeld vorm Bestellen, und zwar reichlich. Das hilft…“

DAS hatten wir nicht gewusst. Aber trotz magerem Service hatten wir sehr lecker gegessen und machten uns per Taxi auf den Weg zurück in die Stadt. Chris machte sich die ganze Zeit Gedanken über die Abendgestaltung und hatte inzwischen angefangen, sämtliche Verkäuferinnen und Taxifahrer zu fragen, welchen Nachtklub sie empfehlen könnten. Wir bekamen immer die gleiche Antwort: „Es gibt nur zwei, Helios und Oasis. Und einer ist schlimmer als der andere. Im Oasis ist das Essen miserabel, ausserdem wimmelt’s dort vor Taschendieben. Und im Helios sind nur Kleinkinder.“ Ich selbst hatte keinen Bock auf russische Provinzstadt-Disco, schon gar nicht nach dem, was ich gehört hatte. Chris wollte aber unbedingt beide ausprobieren, und ich liess mich schliesslich überreden. Erstmal assen wir im Oasis Abendbrot, superlecker übrigens, und gingen nachher ins Helios, wo es durchaus unterschiedliche Altersgruppen gab, auch die Atmosphäre war annehmbar. Chris griente mich an: „Siehste, du solltest nicht alle Horrorgeschichten glauben, die dir die Leute hier erzählen.“

Frühstück in einem kleinen Cafe am nächsten Morgen. Unsere Tischnachbarn sprachen uns an: „Im Kulturpalast gegenüber ist heute eine Katzenausstellung, da geh ich mit meiner Tochter hin. Wollt ihr nicht mitkommen?“ – „Nee“, Chris setzte sein verlegenes Grinsen auf, „ich guck mir lieber andere Miezen an.“ - Wir machten uns dann langsam auf den Weg zurück nach Kirkenes, diesmal bei Sonnenschein und schneefreien Strassen. Chris war sehr zufrieden mit den Trip: Auto billig repariert, gut gegessen und Spass dabei gehabt, Nachtleben genossen. Und das mit privatem Dolmetscher. Was will man mehr?

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