Der nymfomane Professor
Petersburg. Unsere Ausländergruppe hatte Unterricht bei einem gutaussehenden und charmanten Literaturprofessor, kompetent und – zumindest in den ersten Wochen – sehr nett. Das Problem war aber seine Haremswirtschaft, die sich wie ein Spinnennetz durch das Institut zog, mit Ausläufern in Nachbarstädte. Im Grunde war das nicht zu übersehen, zumindest für die Aussenstehenden. Blöd nur, dass auch meine Mitstudentin Conny ihm in die Fänge ging – trotz Warnungen von mir und den anderen Sprachschülern. In jeder Literaturstunde himmelten die beiden einander an. Als aber unser Professorchen einmal zum Unterrichtsbeginn die Werke von Harold Pinter erwähnte und Conny darauf hin zaghaft fragte: “Wer?”, war sie bei ihm sofort unten durch: “Wie jetzt, sind Sie etwa nicht hochgebildet? Das ist ein berühmter Dramen-Autor und wurde schon mehrmals für den Nobelpreis nominiert!!!“ donnerte er sie an. Michael murmelte genervt: “Muss man den kennen?” - “An unseren russischen Unis kennt jeder Harold Pinter, selbst der lausigste Physik-Student…Schaut selbst ins Internet, auf der Diskussions-Seite in meiner Yandex-Mailbox ist Pinter im Moment das Top-Thema”, blaffte der Professor zurück. – Matthias wagte zu unterbrechen: “Worüber hat der Gute denn geschrieben, dass er solche Aufmerksamkeit bekommt?” – “Über den Tod.” – Ach so. Der Professor warf uns der Reihe nach verächtliche Blicke zu und setzte fort mit seiner russischen Literaturgeschichte. Conny war an diesem und an den folgenden Tagen überhaupt nicht ansprechbar, sie zog sich völlig zurück. Matthias begann aber noch am selben Nachmittag im deutschen Internet zu recherchieren. Über Pinter fand er nur kurze allgemeine Informationen, er wurde aber in keinem Forum diskutiert. Irgendwie schien sich niemand für den zu interessieren. “Den Prof mach ich fertig”, meinte Matthias zu uns früh am nächsten Tag. Stunden später, als wir uns alle in der Mensa trafen und Borsch löffelten, erzählte er uns: In der ersten Pause hatte er sich Conny geschnappt und war mit ihr ohne anzuklopfen in den Lehrstuhl gestürmt, wo der Professor gerade mit seiner hübschen, aber sehr kindlich wirkenden Doktorandin schäkerte. “Erstens”, raunzte Matthias Richtung Professor, “verlange ich, dass Sie bei uns solches überflüssige Wissen ala Pinters Werke nicht pauschal voraussetzen. Zweitens: Lassen Sie die Finger von Conny, die gehört zu mir.” – Die Turtelnden liessen sofort voneinander ab. Professor, Doktorandin und Conny schauten einander mit schreckverzerrten Gesichtern an. – Am gleichen Abend sassen wir Sprachkurs-Leute mit zwei russischen Zimmernachbarn in unserer Wohnheim-Küche zusammen, Conny immer noch etwas bleich. Wir assen Pelmeni, tranken Tee und unterhielten uns über den Tag. Kyrill, unser Geologie-Student, reagierte richtig sauer: “Ist man also ein Mensch zweiter Sorte, nur weil man diesen Pinter nicht kennt? Und was ist eigentlich mit der Freiheit? Ich lese, was ich will. Mich interessieren zum Beispiel Sachen wie Polargeschichte. Und das ist nun mal ein Thema, von dem die meisten Leute überhaupt keine Ahnung haben.” – Einige von uns murmelten zustimmend. Mascha, unsere Biochemie-Studentin, meinte nach einer Weile: “Wisst ihr, es gibt eine Menge Russen, die eine gute wissenschaftliche Ausbildung und ein enormes Wissen über Weltkultur haben, aber sich mit Jobs abfinden müssen, in denen sie extrem niedrig bezahlt werden. Das macht sie natürlich verbittert. Wenn sie dann bei ihrer Arbeit mit westlichen Touristen oder Studenten zu tun haben, und vor allem mitbekommen, dass diese materiell besser dastehen, kriegen sie Minderwertigkeitskomplexe und versuchen diese mit Überheblichkeit zu überspielen. Sowas passiert leider immer wieder.” – Das wirkte irgendwie einleuchtend. So langsam beruhigten wir uns wieder, ich schenkte mehr Tee ein und legte eine neue CD auf. Fast andächtig hörten wir: “Schneesturm”, die aktuelle Rock-Ballade von DDT, und sangen leise den Refrain mit: “Spiel, wie du nur kannst, spiel, schliess die Augen und kehr zurück…” Als das Lied zuende war, hörten wir draussen tatsächlich den Wind pfeifen… Nur langsam kehrten wir in die Realität zurück. Zwei Tage später, wir sassen in der Mensa, kam Michael aus dem Internet-Raum angespurtet und erzählte:”Ich habe heute früh unter meinen englischen Kommilitonen und den Biologie-Doktoranden-Kollegen meiner Schwester eine Umfrage gestartet: Wer kennt Harold Pinter? Antwort: Niemand!!!” – “Grade die Biologen, die sich doch für den Tod interessieren müssten”, grinste ich, und Conny lachte zaghaft. Na also, dachte ich, sie ist schon fast übern Berg. Wenige Tage später, genau eine Woche nach dem Pinter-Vorfall, erwartete uns eine Überraschung am Institut: Zur Literaturvorlesung erschien ein neuer Lehrer – eine Frau…
Kaggi-Karr - 17. Aug, 18:48