Dienstag, 5. Oktober 2010

Geburtstagsparty mit Hindernissen

Meinen Geburtstag feierte ich im Kiewer Wohnheim. Zum Kuchenbacken brauchte ich eine Packung Eier, fand aber keine im Laden um die Ecke, und bis zum nächsten Geschäft war es weit. Ich hörte, dass Atzu nochmal in die Stadt fahren wollte, und bat ihn inständig, Eier mitzubringen. Nach vielleicht einer Stunde kam er zurück und drückte mir freudestrahlend sein Geschenk in die Hand: eine mit Kette und Hängeschloss umwickelte Eierpackung, in der sich außer den ersehnten Hühnerprodukten auch ein Tamagotchi befand. - Ich hatte ja keine Erfahrung mit diesem Zeug. Es lag bei uns eine Weile in der Küche rum. Irgendwann schaltete ich das Ding einfach mal an, so nach dem Motto: Mal sehen, was passiert. War dann aber jedesmal ziemlich genervt und hilflos, wenn es lospiepte. Sara weigerte sich strikt, sich um das Teil zu kümmern, und so ist das Tamagotchi bei uns mehrere Male eines kläglichen Todes gestorben.

Nach dem Geburtstags-Abendessen teilten sich meine Gäste in zwei Gruppen: die Leute, die mehr oder weniger Deutsch sprachen, blieben im Wohnzimmer, die anderen zogen sich in die Küche zurück und spielten Poker. Irgendwann nach Mitternacht kam unsere Wohnzimmer-Truppe auf die Idee, eine Disco zu machen. Die Ukrainer legten "Modern Talking" ein, volle Lautstärke, und tanzten. Plötzlich klingelte es, draußen stand die Deschurnaja, eine Dame von der Hotelrezeption (diese haben in Russland und der Ukraine auch die Funktion von Ordnungshütern). Sie erzählte uns, dass sich die Nachbarn von allen Seiten beschwert hätten. Nun gut, wir machten die Musik leiser. Es klingelte wieder. Diesmal war's die Nachbarin von unter uns, eine ältere bulgarische Dozentin. Nun gut, wir hörten noch leiser, trauten uns nicht mal mehr, die Füße beim Tanzen zu bewegen. Zwecklos - es klingelte wieder. Diesmal war's die Deschurnaja. Sie war unerwartet verständnisvoll: "Mir ist ja egal, was ihr macht, aber diese Nachbarin von euch geht mir langsam auf die Nerven, sie kommt dauernd zu mir und beschwert sich, darum, bitte, macht die Musik aus." - Was soll's - die Disko war damit beendet und die Party auch. Ich war stinksauer. - Am nächsten Morgen klingelte es wieder an der Tür. Wieder einmal die Dozentin, diesmal mit ihrem Mann. Sie stellte sich vor mir auf und übergoss mich mit ihren Schimpftiraden. Sie erzählte mir, dass sie eine hochgeachtete Universitätslehrerin sei, dass wir diese Nacht ihre Gesundheit ruiniert hätten, dass sie jetzt Medikamente nehmen müsse und nun arbeitsunfähig sei usw. Ihr Mann stand daneben und sagte kein Wort. Ab und zu drehte sie sich zu ihm um mit den Worten: "prawda sche?" (Stimmt's?), woraufhin er ergeben nickte. Als ihr dann irgendwann nichts mehr einfiel, gingen die beiden. Ich schloss die Tür und setzte mich in die Küche - Sara war bei ihrem spanischen Freund -, frühstückte und hörte laute Musik. Meine Laune war übelst schlecht. Dann klingelte es. Aha, dachte ich, jetzt kommen die anderen Nachbarn. Sofort schaltete ich die Musik aus und fragte misstrauisch: "Wer ist dort?" - "Sara" sagte jemand kleinlaut. Meine Finnin war gekommen...

Unsere Nachbarin ließ uns bis zum Ende des Studienjahres keine Ruhe. Einmal sah ich mit Sara bis gegen elf Uhr abends fern, wir sprachen überhaupt nicht, sagten nur einander "gute Nacht". Am nächsten Tag kam die gute Frau wieder. Sie war noch wütender als an meinem Geburtstag. Jetzt hatte sie ganz andere Argumente (die allerdings nicht haltbar sind): "Ihr macht ständig Krach, ihr seid ständig betrunken, was ist das überhaupt für eine Erziehung, wo seid ihr eigentlich aufgewachsen... Ich bin eine geachtete Dozentin, ich kann veranlassen, dass man euch aus dem Wohnheim schmeißt..." Es war schwierig, sie loszuwerden.

Wir waren nicht die einzigen, denen die bulgarische Lehrerin das Leben schwer machte. Sie beschwerte sich, als wir mit Georgiern zwei Etagen über ihr feierten. Sie beschwerte sich auch bei einem Mädchen, das an einem Samstagnachmittag in Zimmerlautstärke Musik hörte: "Ihre Musik stört mich beim Schreibmaschineschreiben." - "Und mich stört Ihr Schreibmaschineschreiben beim Musikhören." Die Dozentin guckte sie schockiert an und ging.

Der einzige Mensch, mit dem sich die bulgarische Dozentin angefreundet hatte, war ein junger Pole, der übrigens ein gutes Glas Wodka nicht verschmäht. Sara und ich hatten mehrmals bei ihm gefeiert. Sara unterhielt sich oft mit ihm und erzählte mir einmal, dass er inzwischen die Flucht ergreift, wenn er sie (die Dozentin) sieht, da sie sich ständig bei ihm über ihre Leiden ausheult.

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