Donnerstag, 7. Oktober 2010

Journalismus

Ein neues Buch ist erschienen: „Russland in Farbe“. Autor: Arne-Egil Tönset, ehemals norwegischer Russland-Korrespondent, jetzt Freelance-Journalist. Aus dem Klappentext des Buches: „Es gibt keine objektive Wahrheit. Schon gar nicht in Russland. Nicht mal in Geschichtsbüchern, denn die werden nach jedem Regimewechsel umgeschrieben. (…) Tönset nähert sich Russland mit Enthusiasmus, leuchtenden Augen und großer Demut. Er zeigt, dass man nicht alles verstehen muss, um fasziniert zu sein.“ - In der Bibliothek von Kirkenes, dem letzten norwegischen Städtchen vor der russischen Grenze, sollte Tönset sein Buch vorstellen. Ich ging hin.

Arne-Egil: Ein sympathischer älterer Herr, schlank und etwas sehnig, mit verschmitztem, gutmütigen Lächeln. Publikum: Norwegisch-russisch gemischt. Arne-Egil schmunzelt in die Menge und stellt gleich zu Beginn seines Vortrages fest: „Wir Journalisten haben traditionell den Auftrag, „objektiv“ zu berichten. Aber was ist objektiv? Nichts. Kein Journalist ist in der Lage, wirklich objektiv zu berichten. Also erwarten Sie nicht, dass ich in meinem Buch die große Politik analysiere. Meine Geschichten sind subjektiv. Sie sind persönlich. Sie handeln von Russland, wie ich es sehe. Und sie handeln von meinen russischen Freunden.“

Er liest einige Histörchen aus seinem Buch vor - über russische Badehäuser, Raststätten und Zollkontrollen. Anekdotenhaft und humoristisch, aber nie herablassend. Es kichern die Norweger und die Russen. Anschließend: Diskussion. Eine Russin meint begeistert: „Ich hab das Buch in einer Nacht durchgelesen und mich kaputtgelacht.“ Norweger, die öfter in Russland waren, bestätigen: „Vieles habe ich so oder ähnlich auch erlebt.“ Eine russische Bibliotheks-Angestellte: "Es gibt massenhaft Bücher westlicher Autoren über Russland, aber das hier ist eines der wenigen, deren Inhalt auf mich authentisch wirkt." Einzige Kritikerin: eine Russin, die sich über die zuerst vorgelesene, wenig appetitliche Toilettengeschichte echauffiert: „Warum berichten Sie nur Negatives über Russland?“ – Gegenfrage: „Haben Sie das Buch gelesen?“ - „Nein.“ Verlegenes Schweigen, dann (schon wieder freundlicher): „Aber ich werde es lesen.“ Arne-Egil, siegessicher: „Gut, wenn Sie es gelesen haben, reden wir weiter.“

Nach dem Vortrag: Interview mit einem Lokalzeitungs-Reporter. „Warum haben Sie das Buch geschrieben?“ - „Ich habe jahrelang als Russland-Korrespondent gearbeitet, und dabei ist mir nach einer Weile klargeworden, wie verzerrt ich über das Land berichte. Wissen Sie, die großen Agentur-Chefs erwarten von uns Russland-Reportern eine total schwarz-weiße, einseitige Berichterstattung. Die sitzen in Oslo in ihren Büros und haben von Russland nicht die leiseste Ahnung. Ich bekam Gewissensbisse, das Gefühl, die Menschen belogen zu haben. Daher beschloss ich, dieses Buch zu schreiben.“

Frage an meine deutschsprachigen Leser: Kommt euch das mit der Russland-Berichterstattung irgendwie bekannt vor?
auswaerts - 10. Okt, 17:51

russland kommt selten gut weg

allerdings kommt mir das bekannt vor! russland kommt irgendwie selten gut weg - auch bei mir im blog nicht. immer ist es hier irgendwie scheiße: dinge funktionieren nicht, sondern dauern. leute sind unfreundlich, klos sind eklig. und irgendwie stimmt das auch: grad gestern wollte ich in der bibliothek etwas kopieren. das war ein prozedere, das insgesamt eine stunde gedauert und immens viel geld gekostet hat. da habe ich die arme kopierfrau angeschnauzt, "warum ist das bei Euch alles so kompliziert?!?" nicht nett von mir, aber sie hat's mit fassung getragen: "ja, es ist alles kompliziert, junge frau. aber das habe ich mir ja nicht ausgedacht."

es ist halt so einfach, immer nur die eine seite zu sehen und zu beschreiben. die, die so durchgeknallt ist. objektiv is nix, das is klar. kein journalist ist objektiv, das sind ja alles menschen. es geht immer nur um annäherung an ein ideal der objektivität. aber wie will man auch etwas objektiv nennen, das man selbst (zwangsläufig selektiv) aufgenommen, (höchstwahrscheinlich gewichtend) verarbeitet und dann (demzufolge als etwas neues) produziert hat?

die anderen seiten russlands, die sind nicht so schön leicht zu beschreiben. die liegen nicht so schön offen da, die verfangen nicht so gut, mit denen lässt sich nicht so schön plakativ etwas machen. dazu kommt, dass die leute kompliziertes meist nicht lesen wollen. kompliziertes muss man so aufbereiten, dass es vollkommen unkompliziert rüberkommt - und das ist richtig schwer. presseberichterstattung ist wohl auch deswegen einfach: das komplizierte dauert erstens länger, und gelesen wird meist doch lieber das einfache. das, das das eigene weltbild bestätigt. und weltbilder sind numal für gewöhnlich schwarz-weiß.

die veranstaltung, auf der Du da warst, klingt richtig toll. aufklärerische und objektive grüße!

Kaggi-Karr - 11. Okt, 23:12

Mir ist ja auch klar, dass es nicht völlig objektiv geht in der Berichterstattung, dass man vereinfachen muss und dass das Durchgeknallte in Russland besser zu beschreiben ist.

Aber was mir aufgefallen ist: In den grossen deutschen Medien überwiegen bei Russland die Themen: Korruption, Mafia, Armut, Trunksucht, Mangel an Demokratie / Menschenrechten, Tschetschenien (und das irgendwie immer nur aus tschetschenischer Sicht...) Klar, sind ja alles wichtige Themen, aber das drückt Russland voll den Stempel auf. Und vor allem wirken diese Berichte immer irgendwie herablassend, ala: Seht her, uns Deutschen geht's gut, wir machen (fast) alles richtig, und jetzt schaut mal nach Russland, wie schlecht's denen geht, die kriegen irgendwie nix gebacken.
- Frage: Ist das dannn noch subjektive Berichterstattung, wenn (fast) alle (mehr oder weniger) das Gleiche berichten, bzw. der Tenor immer ähnlich ist?

Bei deinem Blog habe ich übrigens nie den Eindruck, dass Russland schlecht wegkommt. Eben weil du bei Kritik ganz unterschiedliche Themen einbringst, alltagsbezogene, die die deutsche Presse kaum / gar nicht abdeckt, und weil du auch ne Menge Positives berichtest. So als Ausgleich. Und ich hab den Eindruck, dass du dem Land / die Kultur bei aller Kritik immer Respekt entgegenbringst.

In meinem Blog kommen Russland / Ukraine auch nicht immer gut weg ;-P aber ich versuche, Positives und Negatives zu mischen, eher zu beschreiben, und mir wertende Kommentare weitgehend zu verkneifen. Klappt zwar nicht immer, aber ich geb mir Mühe )))

Mir fällt grad ein: Irgendwo hab ich von einer Untersuchung gelesen, in der Deutsche interviewt wurden, die in Moskau arbeiten. Eine der Fragen war (sinngemäss): Was nervt Sie am meisten an Moskau? Wider Erwarten war die häufigste Antwort nicht: "Kriminalität/Mafia", sondern: die Bürokratie...
Kannst du das bestätigen? ;-)
Farbig-subjektive Grüsse
(klappt ja eh nicht mit der Objektivität...)
auswaerts - 30. Dez, 01:25

objektiv nie geantwortet

hey, ich seh grad, dass ich hier nie geantwortet hab. jaja, da kam dann die murmanskreise, da ging das dann ja persönlich, dann restmoskau, dann eine andere hauptstadt...

Du hast Recht, die Russlandberichterstattung in Deutschland ist einschlägig. Russen fahren alte kaputte Autos, saufen Wodka, und wenn ihnen nicht gerade das Dorf abbrennt, sind sie meterhoch eingeschneit. Das alles nehmen sie mit stoischer Gelassenheit hin, weil sie gegen Mafia und Regierung ja eh nichts machen können und noch nie konnten. Ich sage: Langweilig, so ein Russlandbild. Das ist aber ungefähr das, was hier verlangt wird, also ist es das, was geliefert wird. Chodorkowski wird berichtet jetzt. Aber was war mit den dicken Unruhen mitte Dezember? Kaum ein Ton in der vorweihnachtlichen Winteridylle Germaniens. Ääh, vom Thema abgekommen. So ein bisschen "Guckt mal was die alles nicht gebacken kriegen und wie toll es bei uns ist", das haben wir m.E. wahnsinnig gut drauf. Russland eignet sich da besonders gut, weil es ja auch international wegen Nichtdemokratie etcpp kritisiert wird. Aber eigentlich tun's doch auch die Italiener mit ihrem Halbdiktator (in Dtld klebt niemand an irgendwelchen Posten, und Macht ist auch nirgends gebündelt), die Franzosen mit ihrer Angst vor Zigeunern (bei UNS ja ein GÄNZLICH unbekanntes Phänomen) oder die Ösis mit ihren Nazis immer. Jetzt grad guckt man tadelnd auf Ungarn. Nicht, dass dies nicht zu Recht geschähe! Im Gegenteil. Hier gilt es, nicht nur tadelnd zu gucken, sondern einzugreifen, weil Grundpfeiler des EU-Selbstverständnisses angesägt werden. (Schöne Metapher, nicht wahr?) Jetzt bin ich schon wieder abgeschweift, vielleicht sollte ich Politikerin werden. Wollte sagen: Ja genau, in unserer Berichterstattung schwingt ganzganz oft "Wir sind besser, bei uns könnte sowas nicht passieren" mit. Als Linienschwingung. Hatt ich auch schon gesagt, oder? Ich sollt wirklich Politikerin werden.

Danke für die Nettigkeiten zu meiner Russlandberichterstattung! Ich gebe sie Dir original zurück: Du erzählt schon auch von dem Ollen, Durchgeknallten, Nervigen. Aber auch von dem Witzigen, Freundlichen, Herzlichen, die Russland auch ausmachen. (oh Gott, "Herzlichkeit" ist SO EIN RUSSISCHES KLISCHEE!! soll ich's löschen? is ja aber wahr!) So, dass Leser_innen, die Russland nicht kennen, sich selber etwas Buntes zusammenbasteln können. Und feststellen: Mensch, da leben ja Leute wie du und ich!

Zu der Untersuchung, die Du gelesen hast: Ja wie komisch! Welch Überraschung! Auch ich fühlte mich wider Erwarten weder durch ständige Mafia-Attacken belästigt noch durch Überfälle in U-Bahn, Omnibus oder Hausflur. Dergleichen habe ich nämlich nicht erlebt. Dass nicht nur Ausländer, die in Russland leben, von der Bürokratie genervt sind, glaube ich, nein, WEISZ ich. Aber nu war ich ja nur ein paar Monate da und hatte mit Bürokratie nicht viel zu tun. Richtig genervt haben mich die Staus. Der Verkehr. Der SCHEISSVERKEHR, und die krass rücksichtslosen, rüpelhaften Aggro-Menschen. Dies gilt für Moskau. Und ein bisschen Angst gemacht hat mir die Milizpräsenz bei der einzigen Demo, auf die ich mich getraut hab. Ich hatte nicht den Eindruck, man wolle uns als Waldschützer_innen und Verfechter_innen freier Meinungsäußerung sehen. Vielmehr hatte ich angesichts der aufgefahrenen Maschinerie, der Anzahl der Milizionäre und ihres Gebahrens das Gefühl, wir paar tausend Leute seien ein Hochrisikofaktor für die Staatssicherheit, den zu beseitigen der kleinste Anlass ausreichen würde. Vielleicht war das nur ein kulturelles Falschsehen. Vielleicht war aber auch ein bisschen was dran an meiner Einschätzung. Man hört und liest ja so einiges.
Friedliche, freundliche und schläfrige Grüße!

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