Mittwoch, 8. September 2010

Lenas Welt

Mit meiner zweiten Gastfamilie in Petersburg hatte ich eindeutig Glück. Alle supernett. Meine Gastschwester Lena hat einen sagenhaften Sinn für Humor und ist auch sonst ein Unikum: hat deutsche Literatur studiert, verfasst Gedichte und Lieder, die sie auch auf Gitarre spielt, liebt Wagner und germanische Mythologie, schrieb ihre Dissertation über Nietzsche. (Und: NEIN, sie ist NICHT rechts!). In der Zeit, als ich bei Lena zu Besuch war, kam gerade ihr erster Gedichtband auf den Markt. Lenas Professor und Mentor, Alexei Georgewitsch, war sehr stolz auf seinen Schützling.

Und ganz in Petersburger Salon-Tradition organisierte er regelmäßig sogenannte „Leibelsche Lesungen“, zu denen er neben Lena auch andere junge Dichter einlud. Ich durfte auch kommen. Die Lesung fand in der Wohnung des Professors statt. Zunächst wurde dort im großen Stil getafelt und (zivilisiert) getrunken. Alexei Georgewitsch, gebürtiger Armenier, brachte vor jedem Anstoßen minutenlange pathetische Toasts aus, ganz nach kaukasischer Sitte. Nach dem Festmahl ging es ans Vorlesen. Auch ich konnte was beisteuern, hatte ich doch mein russischsprachiges Gedicht über den norwegischen Winter mitgenommen. Wir saßen eine ganze Weile gemütlich beisammen, dann gingen die älteren Herrschaften ins Nachbarzimmer, um alte Schallplatten zu hören. Ich ging mit den anderen in die Küche zum Aufräumen; wir hatten jede Menge Spaß. Fazit: Russische Dichter sind viel unkomplizierter, als ich angenommen hatte.

Einer der Teilnehmer war Vadim, Lenas damaliger Freund. Ich lernte ihn etwas besser kennen, da er mehrmals bei Lena zu Besuch war, wurde aber nicht richtig schlau aus ihm: Wenn Professor Alexei Georgewitsch in der Nähe war, versuchte er, Vadim, krampfhaft, sich akademisch perfekt auszudrücken – selbst bei belanglosen Alltagsgesprächen. War er aber mit Lena zusammen, ohne den Professor, so trieb sie nur ihren Schabernack mit ihm. Vadim dagegen ließ alles über sich ergehen und machte nur ab und zu einen verzweifelten Versuch, sich zur Wehr zu setzen. Es war die reinste Comedy. – Ich fragte mich: Wie ist dieser Typ, wenn ich mit ihm ALLEIN rede, ohne störende Einflüsse? Ich beschloss dies zu überprüfen, und rief ihn an. Unglaublich: Am Telefon wirkte er total nett, locker und unkompliziert. - Lena war fassungslos, als ich ihr nachher mitteilte: „Also, dein Vadim ist ja doch ein ganz normaler Mensch.“

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