Donnerstag, 12. August 2010

Mit dem Chor in Russland

Mein Chor in Kirkenes organisierte eine Reise in den russischen Nachbarort Sapoliarny. Bürokratisch nicht so einfach: Zur Visa-Ausstellung für 40 Personen kamen die Zollerklärungen für das gesamte Equipment. Damit nicht genug: An der Grenze musste nochmals alles ausgepackt und gesondert fotografiert werden. Auch der Busfahrer hatte nichts zu lachen: Die wachsame russische Grenzpolizei stellt fest, dass der CO2-Ausstoss des Busses den in Russland zulässigen Höchstwert leicht übersteigt, und belegt den Fahrer mit einem Bußgeld von umgerechnet 15 Euro, einzuzahlen in einer russischen Bank. Frustriert nahm der Fahrer den Bescheid entgegen. Nachdem wir endlich ausreisen durften, sahen wir nach etwa einer halben Stunde die Silhouette des Städtchens Nikel: drei Schornsteine, ein riesiges halbverfallenes Schmelzwerk, rundherum – Dunst, schwarze Erde und tote Natur. Hier werden pro Jahr rekordverdächtige 120 000 Tonnen Schwefeldioxid ausgestoßen. Der Busfahrer schüttelte den Kopf. Noch eine halbe Stunde, und wir kamen in Sapoliarny an. Einchecken und Abendbrot. Nachher hatten die Norweger nichts Eiligeres zu tun, als den Supermarkt zu stürmen und Alkohol zu kaufen. Dann versammelten sie sich wieder im Hotelrestaurant, um zu feiern. Aber wie! Sag mir keiner, die Russen würden saufen! Im Restaurant saßen vielleicht zwanzig Russen, und an reservierten Tischen der 40-köpfige norwegische Chor. Die Norweger tranken und sangen, bis sie unter den Tischen lagen, der Lärmpegel stieg kontinuierlich. Die Russen saßen dagegen die ganze Zeit ruhig und still an ihren Tischen, schauten nur ab und zu irritiert zu den Norwegern. Die Chorleiterin meinte: „Den heizen wir ein.“ Der Chor sang Katjuscha auf Russisch, die Russen klatschten und sangen gnädig mit, nachher trat wieder Ruhe ein auf russischer Seite. So feierten die Norweger bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen, als die Norweger shoppen waren, ging ich mit dem russisch-unkundigen Busfahrer in die Stadt, um ihm beim Geld-Einzahlen zu helfen. Bei minus dreißig Grad und glatten Straßen nicht gerade ein Vergnügen. Wir kamen gegen acht zur Bank, die noch geschlossen war. Zwei Frauen standen schon da und warteten. Sie erklärten uns das russische Schlangen-System: „Die Bank macht um neun auf. Wir warten hier schon mal. Aber da Sie jetzt schon gekommen sind, können wir Ihnen einen Platz in der Schlange reservieren. Sie stehen hinter uns. Kommen Sie kurz vor neun zurück.“ Wir gingen also zurück ins Hotel und kamen gegen neun wieder zur Bank. Die Schlange dort war stark gewachsen. Wir fanden recht schnell unseren Platz in der Schlange und ließen uns den von unseren Vorher-Stehenden bestätigen. Nach etwa einer Viertelstunde waren wir dran, ich füllte ein Formular aus, der Chauffeur zahlte das Geld ein. “Die wahre Strafe waren nicht die 15 Euro, sondern die Tortur bei der Bank“, seufzte er. Wir tranken noch einen Kaffee, dann ging ich in den Kulturpalast. Dort begann gerade die große Probe: Norwegischer Chor mit russischem Kinderchor. Ziel war ein teilweise gemischter Auftritt. Zuerst führte Sigrid, unsere norwegische Dirigentin. Sie übte mit den Kindern die Choreographie. Charmant und auf Englisch. Die russischen Schüler schienen die Aufforderungen das erste Mal zu hören, reagierten aber intuitiv richtig. Dann übernahm die russische Dirigentin. Zwar wirkte sie sanft und zart, führte aber ein strenges Regime. Jeder kleine Patzer der Schüler wurde herablassend kommentiert. Ihr russischer Mit-Dirigent erklärte uns die Situation: „Wir loben nie. Wir kritisieren nur.“ In der Pause redeten die norwegischen Chormitglieder aufgeregt miteinander: „Hast du die Schüler gesehen? Völlig verspannt vor Angst und Schüchternheit. So kann man doch gar nicht richtig singen.“ – Nichtsdestotrotz funktionierte das Konzert gut… Anschliessend wurde von den Norwegern nochmal richtig Alkohol geshoppt. Nach dem Abendessen schenkte mir Björn, der Busfahrer, eine Orchidee – aus lauter Dankbarkeit für die Hilfe. Später versammelten sich die Chorleute in mehreren Hotelzimmern und brauchten ihre Alkohol-Vorräte auf. - Am nächsten Morgen, äh, Vormittag, wurden nochmal kräftig Porzellan, Kristall und Lebensmittel eingekauft, bis es fröhlich singend zurückging nach Kirkenes.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Goldene Kuppeln und Kastanien
Kiew. Mutter der russischen Städte und Jerusalem des...
Kaggi-Karr - 26. Sep, 00:48
Russen über Russland
So, jetzt vergesst mal, was unsere deutschen Leitmedien...
Kaggi-Karr - 26. Mai, 01:22
Das Reißverschluss-Problem
An meinem Wintermantel war der Reißverschluss kaputt....
Kaggi-Karr - 30. Mär, 17:04
Leider immer wieder aktuell
Das letzte Kapitel Am zwölften Juli des Jahres zweitausenddrei lief...
Kaggi-Karr - 5. Mär, 13:37
Gleichgültigkeit
Weder der Krieg, noch der internationale Rüstungshandel, weder...
Kaggi-Karr - 5. Mär, 13:32

Suche

 

Status

Online seit 5287 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 26. Sep, 00:48

Credits


Aktuelles
Kiew
Norwegen-Russland-Pendeln
Norwegische Tundra
Russland
Sankt Petersburg
Wladiwostok
Zitate und Gedichte
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren