Kiew skurril
Goldener Herbst
September. Sonne. Warm. Im Uni-Gelände bemerkte ich eine wunderschöne Kombination aus intensiven Farben: blauer Himmel, grüne Bäume, rote und gelbe Uni-Gebäude, an denen die Studentinnen vorbeiflanierten. Irgendwie sahen sie alle gleich aus: Lange Haare, geschminkte Gesichter, schwarze Jäckchen, kurze Röckchen, Strumpfhosen, elegante schwarze Täschchen und halbhohe schwarze Stiefelchen. Sie schienen sogar im Gleichschritt zu gehen, wenn sie nebeneinander liefen.
Prunk und Protz am Sophienplatz
Stadtzentrum. Das größte Gebäude auf dem Sophienplatz sieht auf den ersten Blick aus wie ein Werk des Klassizismus, beim genaueren Hinsehen dagegen wirkt der halbrunde betongraue Bau eher furchteinflößend. Von unserer Exkursionsleiterin erfuhren wir, ein österreichisch-deutsches Studentengrüppchen, dass dieses Gebäude zu Sowjetzeiten als Residenz der KPdSU erbaut wurde - genau an dem Ort, wo vorher eine gewaltige, von weit her zu sehende Kirche gestanden hatte, die man aber natürlich abreißen "musste". Die Österreicher tuschelten: "Sieht ja bedrohlich aus." - "Soll es wahrscheinlich auch."
Ebenfalls auf dem Sophienplatz befindet sich eine riesige Kirche, weißes Gemäuer, hellblaue Fassaden, goldene Verzierungen und goldene Kuppeln. Als ich im März 1998 in dieser Gegend herumspazierte, war eben dort noch wildes Feld. Nur ein halbes Jahr später sah ich am gleichen Ort eine fast fertig gebaute Kirche. Zuerst glaubte ich an eine Luftspiegelung, immerhin befindet sich am anderen Ende der Straße die im ähnlichen Stil erbaute Sophienkirche. Es stellte sich heraus, dass man da, wo ich die Fata Morgana vermutete, in Rekordzeit die sogenannte Michaeliskirche aus dem 12. Jahrhundert wiederaufbaute, die in den 30er Jahren abgetragen worden war. Komisch, für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche hatte man 15 Jahre gebraucht. Welche Qualität muss dann das Gemäuer einer Kirche haben, die nicht weniger pompös ist und im Laufe eines Jahres aus dem Boden gestampft wird? In irgendeiner Kiewer Zeitung las ich, dass der Glockenklang der fertig gebauten Michaeliskirche vom Band kommt - das Läuten einer echten Glocke würde die Statik nicht aushalten.
Lorelei-Effekt
Einmal spazierte ich über eine extrem lange Dnepr-Brücke. Auf der anderen Seite zogen sich bewaldete Hügel entlang, aus denen die goldenen Türme und Kuppeln des Höhlenklosters herausragten. Beim Laufen schaute ich die ganze Zeit wie gebannt auf dieses Bild, achtete aber nicht auf den Weg. Das war jedoch kreuzgefährlich: Der Fußweg über die Brücke war geradezu übersät mit Schlaglöchern; an jeder Laterne befand sich ein vielleicht quadratmetergroßes Loch, in das man mit einem Bein hätte reinrutschen und sich verheddern können, schlimmstenfalls wäre man völlig durchgerutscht und in den Dnepr gefallen. Ich war in einer ähnlichen Situation wie die Rheinschiffer, die versuchten, an der Lorelei vorbeizukommen. Wie besessen starrte ich auf das grün-goldene Szenarium auf der anderen Seite, bis mir eine innere Stimme zuflüsterte: Schau auf den Weg! Keine Sekunde zu früh: Kaum schaute ich auf den Weg, sah ich schon einen Meter vor mir das nächste Loch. Das wiederholte sich mehrmals... Ich muss einen mächtigen Schutzengel gehabt haben. - Später erinnerte ich mich an ein altes DDR-Russischlehrbuch, in dem ich mal einen Dialog zwischen einem Kiewer und einem deutschen Touristen gelesen hatte. Der Kiewer sagte dort: "Die Kiewer Brücken sind alle in einem hervorragenden Zustand - ich habe sie selbst gebaut."
Erziehung anno 1998
Einmal nahm ich an einer Lehrersitzung an einem Kiewer Institut teil. Als Gast. Freiwillig. Für den Lehrkörper war Teilnahme Pflicht. - Thema der Veranstaltung: Fragen der Erziehung der ukrainischen Jugend. Ich betrat den Hörsaal, ohne recht zu wissen, was mich erwartet. Was ich schließlich sah und hörte, erinnerte an eine sozialistische Versammlung: Vorn - ein großer langer Tisch mit roter Tischdecke. An dem Tisch saß die Institutsleitung, vielleicht zehn Leute. Die traten alle nacheinander auf, jeder hielt eine flammende Ansprache, die er mit dramatischen Gesten begleitete. Es gab verschiedene Vorträge, aber der Kerngedanke war immer der gleiche: Die ukrainische Jugend muss zum Patriotismus erzogen werden: zur Liebe zur ukrainischen Heimat, Sprache, Kultur, Literatur... Auf der anderen Seite des Saales saßen die Lehrer, hörten zu oder korrigierten Hefte unter der Bank. Die Kollegin, die direkt neben mir saß, tuschelte mir zu: „Verstehe ich nicht, weshalb du FREIWILLIG daran teilnimmst…“
Wenn Köpfe rollen
Taras Schewtschenko ist der ukrainische Nationaldichter. Geboren in der zaristischen Ukraine als Leibeigener - freigekauft von Petersburger Literaten/Künstlern auf Grund seines unglaublichen Mal-Talents - später Begründer der ukrainischen Literatursprache - Kämpfer für die von den Russen unterdrückte ukrainische Sprache, für die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Unabhängigkeit der Ukraine - jahrzehntelang entweder unter Zensur in Petersburg, im Zuchthaus oder in der Verbannung. Nationalromantiker pur - und Balsam für die Seele der nach Eigenständigkeit dürstenden Ukrainer. Kein Wunder, dass er nach 1991 zur Symbolfigur der unabhängigen Ukraine aufstieg.
In fast jeder ukrainischen Stadt gibt es unbedingt ein Schewtschenko-Denkmal und ein Lenin-Denkmal. Sieht man so ein Denkmal von weitem, kann man normalerweise schon an der Körperhaltung erkennen, wer das sein soll: Lenin steht aufrecht, mit rausgestreckter Brust und nach vorn gestrecktem Arm. Schewtschenko dagegen steht geduckt, als wenn er jeden Moment einen Schlag in den Nacken erwartet. Nur einmal hat mich ein solches Denkmal aus der Fassung gebracht: Ich betrat das Foyer eines Kiewer Instituts. Vor mir stand ein riesiges weißes Monument, größer als ich. Ich schaute langsam an ihm herauf. Mein erster Gedanke war: Er steht gerade, die Brust ist rausgestreckt, also ist's wohl Lenin. Als meine Augen dann beim Kopf angelangt waren, begann ich mich aber doch zu wundern, denn das war eindeutig der Kopf von... Schewtschenko. Zuerst dachte ich, man hätte den Kopf nach 1991 ausgewechselt, aber überlegte dann, dass das ja Blödsinn ist. Ich schlenderte rüber zur Garderobe, wo die zuständige Frau nicht nur Mäntel entgegennahm, sondern auch Kopier-Dienstleistungen betrieb. Als sie meine Unterlagen kopierte, sah ich mich ein wenig im Garderobenraum um. Links in der Ecke stand eine Kiste, aus der etwas Merkwürdiges herausragte... ja, richtig: eine weiße Lenin-Büste, die perfekt auf Körper des Denkmals am Eingang gepasst hätte. – Ob man den Schewtschenko-Kopf mal zwischenzeitlich mit dem von Juschtschenko ausgetauscht hatte, konnte ich bisher nicht herausfinden.
September. Sonne. Warm. Im Uni-Gelände bemerkte ich eine wunderschöne Kombination aus intensiven Farben: blauer Himmel, grüne Bäume, rote und gelbe Uni-Gebäude, an denen die Studentinnen vorbeiflanierten. Irgendwie sahen sie alle gleich aus: Lange Haare, geschminkte Gesichter, schwarze Jäckchen, kurze Röckchen, Strumpfhosen, elegante schwarze Täschchen und halbhohe schwarze Stiefelchen. Sie schienen sogar im Gleichschritt zu gehen, wenn sie nebeneinander liefen.
Prunk und Protz am Sophienplatz
Stadtzentrum. Das größte Gebäude auf dem Sophienplatz sieht auf den ersten Blick aus wie ein Werk des Klassizismus, beim genaueren Hinsehen dagegen wirkt der halbrunde betongraue Bau eher furchteinflößend. Von unserer Exkursionsleiterin erfuhren wir, ein österreichisch-deutsches Studentengrüppchen, dass dieses Gebäude zu Sowjetzeiten als Residenz der KPdSU erbaut wurde - genau an dem Ort, wo vorher eine gewaltige, von weit her zu sehende Kirche gestanden hatte, die man aber natürlich abreißen "musste". Die Österreicher tuschelten: "Sieht ja bedrohlich aus." - "Soll es wahrscheinlich auch."
Ebenfalls auf dem Sophienplatz befindet sich eine riesige Kirche, weißes Gemäuer, hellblaue Fassaden, goldene Verzierungen und goldene Kuppeln. Als ich im März 1998 in dieser Gegend herumspazierte, war eben dort noch wildes Feld. Nur ein halbes Jahr später sah ich am gleichen Ort eine fast fertig gebaute Kirche. Zuerst glaubte ich an eine Luftspiegelung, immerhin befindet sich am anderen Ende der Straße die im ähnlichen Stil erbaute Sophienkirche. Es stellte sich heraus, dass man da, wo ich die Fata Morgana vermutete, in Rekordzeit die sogenannte Michaeliskirche aus dem 12. Jahrhundert wiederaufbaute, die in den 30er Jahren abgetragen worden war. Komisch, für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche hatte man 15 Jahre gebraucht. Welche Qualität muss dann das Gemäuer einer Kirche haben, die nicht weniger pompös ist und im Laufe eines Jahres aus dem Boden gestampft wird? In irgendeiner Kiewer Zeitung las ich, dass der Glockenklang der fertig gebauten Michaeliskirche vom Band kommt - das Läuten einer echten Glocke würde die Statik nicht aushalten.
Lorelei-Effekt
Einmal spazierte ich über eine extrem lange Dnepr-Brücke. Auf der anderen Seite zogen sich bewaldete Hügel entlang, aus denen die goldenen Türme und Kuppeln des Höhlenklosters herausragten. Beim Laufen schaute ich die ganze Zeit wie gebannt auf dieses Bild, achtete aber nicht auf den Weg. Das war jedoch kreuzgefährlich: Der Fußweg über die Brücke war geradezu übersät mit Schlaglöchern; an jeder Laterne befand sich ein vielleicht quadratmetergroßes Loch, in das man mit einem Bein hätte reinrutschen und sich verheddern können, schlimmstenfalls wäre man völlig durchgerutscht und in den Dnepr gefallen. Ich war in einer ähnlichen Situation wie die Rheinschiffer, die versuchten, an der Lorelei vorbeizukommen. Wie besessen starrte ich auf das grün-goldene Szenarium auf der anderen Seite, bis mir eine innere Stimme zuflüsterte: Schau auf den Weg! Keine Sekunde zu früh: Kaum schaute ich auf den Weg, sah ich schon einen Meter vor mir das nächste Loch. Das wiederholte sich mehrmals... Ich muss einen mächtigen Schutzengel gehabt haben. - Später erinnerte ich mich an ein altes DDR-Russischlehrbuch, in dem ich mal einen Dialog zwischen einem Kiewer und einem deutschen Touristen gelesen hatte. Der Kiewer sagte dort: "Die Kiewer Brücken sind alle in einem hervorragenden Zustand - ich habe sie selbst gebaut."
Erziehung anno 1998
Einmal nahm ich an einer Lehrersitzung an einem Kiewer Institut teil. Als Gast. Freiwillig. Für den Lehrkörper war Teilnahme Pflicht. - Thema der Veranstaltung: Fragen der Erziehung der ukrainischen Jugend. Ich betrat den Hörsaal, ohne recht zu wissen, was mich erwartet. Was ich schließlich sah und hörte, erinnerte an eine sozialistische Versammlung: Vorn - ein großer langer Tisch mit roter Tischdecke. An dem Tisch saß die Institutsleitung, vielleicht zehn Leute. Die traten alle nacheinander auf, jeder hielt eine flammende Ansprache, die er mit dramatischen Gesten begleitete. Es gab verschiedene Vorträge, aber der Kerngedanke war immer der gleiche: Die ukrainische Jugend muss zum Patriotismus erzogen werden: zur Liebe zur ukrainischen Heimat, Sprache, Kultur, Literatur... Auf der anderen Seite des Saales saßen die Lehrer, hörten zu oder korrigierten Hefte unter der Bank. Die Kollegin, die direkt neben mir saß, tuschelte mir zu: „Verstehe ich nicht, weshalb du FREIWILLIG daran teilnimmst…“
Wenn Köpfe rollen
Taras Schewtschenko ist der ukrainische Nationaldichter. Geboren in der zaristischen Ukraine als Leibeigener - freigekauft von Petersburger Literaten/Künstlern auf Grund seines unglaublichen Mal-Talents - später Begründer der ukrainischen Literatursprache - Kämpfer für die von den Russen unterdrückte ukrainische Sprache, für die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Unabhängigkeit der Ukraine - jahrzehntelang entweder unter Zensur in Petersburg, im Zuchthaus oder in der Verbannung. Nationalromantiker pur - und Balsam für die Seele der nach Eigenständigkeit dürstenden Ukrainer. Kein Wunder, dass er nach 1991 zur Symbolfigur der unabhängigen Ukraine aufstieg.
In fast jeder ukrainischen Stadt gibt es unbedingt ein Schewtschenko-Denkmal und ein Lenin-Denkmal. Sieht man so ein Denkmal von weitem, kann man normalerweise schon an der Körperhaltung erkennen, wer das sein soll: Lenin steht aufrecht, mit rausgestreckter Brust und nach vorn gestrecktem Arm. Schewtschenko dagegen steht geduckt, als wenn er jeden Moment einen Schlag in den Nacken erwartet. Nur einmal hat mich ein solches Denkmal aus der Fassung gebracht: Ich betrat das Foyer eines Kiewer Instituts. Vor mir stand ein riesiges weißes Monument, größer als ich. Ich schaute langsam an ihm herauf. Mein erster Gedanke war: Er steht gerade, die Brust ist rausgestreckt, also ist's wohl Lenin. Als meine Augen dann beim Kopf angelangt waren, begann ich mich aber doch zu wundern, denn das war eindeutig der Kopf von... Schewtschenko. Zuerst dachte ich, man hätte den Kopf nach 1991 ausgewechselt, aber überlegte dann, dass das ja Blödsinn ist. Ich schlenderte rüber zur Garderobe, wo die zuständige Frau nicht nur Mäntel entgegennahm, sondern auch Kopier-Dienstleistungen betrieb. Als sie meine Unterlagen kopierte, sah ich mich ein wenig im Garderobenraum um. Links in der Ecke stand eine Kiste, aus der etwas Merkwürdiges herausragte... ja, richtig: eine weiße Lenin-Büste, die perfekt auf Körper des Denkmals am Eingang gepasst hätte. – Ob man den Schewtschenko-Kopf mal zwischenzeitlich mit dem von Juschtschenko ausgetauscht hatte, konnte ich bisher nicht herausfinden.
Kaggi-Karr - 17. Sep, 22:26
Kaggi-Karr - 21. Sep, 12:12
Urfin
Hallo Holzfäller,
viel Spass dann in Kiew, ich beneide dich ein bisschen.
Übrigens, wenn Urfin dazu kommt, ist das nicht weiter schlimm - der ist ja im "Gelben Nebel" gut geworden ;-)
viel Spass dann in Kiew, ich beneide dich ein bisschen.
Übrigens, wenn Urfin dazu kommt, ist das nicht weiter schlimm - der ist ja im "Gelben Nebel" gut geworden ;-)
Altweibersommer
Es gab mal einen Fotografen, der in der Ukraine alle Bushaltestellen fotografiert hat, weil er der Meinung war, diese seien ein einzigartiges , geradezu exotisches, Kulturgut. Ich überlege, ob man dies auch mit allen Leninsxtatuen tun sollte. Wobei: In der nächsten Zeit, könnte es sein, dass noch mehr Leninstatuen wieder errichtet werden. Vielleicht sollte man noch warten ...
Wetterbericht
Der Wetterbericht stammt von 1998... kann nicht dafür garantieren, dass es dieses Jahr wieder so tollen Altweibersommer gibt in Kiew. Fährst du denn jetzt in die Ukraine? Urlaub, Studium, oder Arbeit?
Kannst ja dann in Kiew alle Metrostationen, Schewtschenko-Denkmäler o.ä. fotografieren und in einen Blog stellen. Wäre wirklich interessant.
Übrigens, dein Nick gefällt mir :-) Wenn dann noch der Scheuch, der Feige Löwe und Elli hier im Blog aufkreuzen, können wir gemeinsam in Erinnerungen schwelgen )))
Ach so
Das mit dem in-Erinnerungen-schwelgen sollten wir mit Vorsicht geniessen. Wenn Urfin auch kommt, ist die Stimmung gleich im Eimer...