Samstag, 25. September 2010

Schto?

Da kam ich frisch von der Schul- bzw. Uni-Bank in die Ukraine, mit Eins im Russisch-Abitur, aber ohne Erfahrung im freien Sprechen. War auch in meinem bisherigen Russisch-Unterricht irgendwie nie vorgesehen. - Als ich das allererste Mal spontan was auf Russisch sagen MUSSTE, saß ich in der Kiewer U-Bahn und wurde nach der Zeit gefragt. Mechanisch antwortete ich: "Piat posle tschetyrie" - wörtlich: "Fünf nach vier". Die Dame schaute mich ziemlich entgeistert an: "Schtooooooo?!?!" – DAS geht nun mal im Russischen überhaupt nicht. Mein zweiter Anlauf, die Antwort: "Vier Uhr und fünf Minuten", schien sie aber zu verstehen. - "Piat piatovo" - fünf (Minuten) der fünften (Stunde) - wäre übrigens die perfekte Antwort gewesen. - Aber immerhin hatte ich damit einen Grund, mir die russischsprachigen Zeitangaben gehörig einzubläuen: Noch einmal wollte ich mich nicht blamieren.

Ich fuhr jeden Tag mit der Metro zur Uni. Auf dem Heimweg nahm ich mir meistens Zeit zum Shoppen: In meiner Aussteige-Metro-Station standen nämlich viele Babuschkas, die an winzig kleinen Ständen ihre Ware feilboten: Obst, Gemüse, Piroggen, Schokolade, Zeitungen, Kleidung, Bücher und vieles mehr. Einmal wollte ich dort Zutaten für einen knackigen Tomatensalat kaufen. Dazu brauchte ich auch Petersilie und Dill. Blöderweise wusste ich nicht mehr, was "Dill" heißt. Irgendein kurzes Wort mit zwei Silben und "u" am Anfang. Was gibt's da gleich für Wörter? ... "Petruschku i utjug" sagte ich selbstbewusst und wunderte mich über die entsetzte Reaktion der Verkäuferin, die mich partout nicht verstehen wollte. Ich ging also ohne Dill nach Hause. - Auf dem Heimweg fiel mir dann ein: Dill heißt "ukrop". Und "utjug" bedeutet - Bügeleisen.

Ich wollte Quark kaufen. Zu einer Zeit, als es kaum Supermärkte gab in Kiew, stattdessen aber Straßenmärkte und Geschäfte ohne Selbstbedienung, wo die Verkäuferinnen hinter ihren Ladentischen stehen. Ich betrat also einen solchen Tante-Emma-Laden (wenn dieser Begriff überhaupt passt). Die Verkäuferin registrierte mich zunächst nicht. Schaute mit leerem Blick in die Ferne. Ich suchte Blickkontakt. Grüßte. Langsam wandte sie sich mir zu. Fragte: „Schto?“ Mit einer Stimme, als hätte ich sie nachts um drei aus süßen Träumen geweckt.
- „Tvaróg, paschalsta“. – „Schto?“
Kurze Erläuterung: „Quark“ heißt auf Russisch „tvorog“. Ausgesprochen: „tvaróg“ (mit Betonung auf der zweiten Silbe). Das O in der ersten Silbe wird zu A, weil unbetontes O wie A ausgesprochen wird - normalerweise. Im Wolgagebiet allerdings bleibt das unbetonte O ein O: „tvoróg“. - Im Ukrainischen dagegen heißt „Quark“ „tvoróh“ . Mit Betonung auf dem zweiten O. Das G wird zum H. - Beim Aussprechen des Wortes „Quark“ könnte man in Kiew aber auch surshik verwenden - ein willkürliches Gemisch aus Russisch und Ukrainisch.
Da mich die Verkäuferin also offenbar nicht verstand, probierte ich alle möglichen Varianten:
- „Tvoróg.“ – „Schto?“
Na gut, aus dem Wolgagebiet kommt sie also nicht.
- „Tvoróh.“ – „???“
OK, ich kann nicht davon ausgehen, dass alle Kiewer Ukrainisch können. Aber einen Versuch war es wert.
Hatte ich mir vielleicht die Betonung falsch eingeprägt? Noch einmal:
- „Tvórag.“ – „Schto?“
- „Tvórog.“ – „???“
Ich merkte, wie meine Stimme weinerlich wurde. Letzter Versuch: Surschik.
- „Tvaróh“. – „Schto?“
Stimmt jetzt die Betonung wieder nicht?
- „Tvároh.“ – „???“
Jetzt war ich doch wohl alle Varianten durch. Ich zeigte hilflos mit dem Finger auf das Objekt der Begierde. Das Gesicht der Verkäuferin erhellte sich:
- „Ah, tvaróg!“ –
War das nicht das ERSTE, was ich gesagt hatte??? – Egal. Sie holte eine Quarkdose aus dem Regal, ich nahm das Gewünschte an mich, zahlte und zog grübelnd von dannen: Wie komme ich wohl das nächste Mal zu Quark?

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