Tag des Sieges, Tag des Sieges...
Der ereignisreichste Tag in Kiew war eindeutig der neunte Mai, der Tag des Sieges. Schon Tage vorher ging mir Andrei auf den Nerv mit seinem Gesinge: "Tag des Sieges, Tag des Sieges". Klar, dass ich das Opfer war - als einzige Deutsche im Wohnheim. Der neunte Mai begann mit wunderschönem Wetter. Wir beschlossen, im Wald ein Picknick zu machen. Zogen also los, fanden einen wunderschönen Ort, machten ein Feuer, brieten Speck. Hatten allerdings vergessen, Besteck mitzunehmen, und aßen daher mit Spießchen, die wir uns aus herumliegenden Zweigen bastelten. Nach dem Essen fand einer von uns im Wald eine "Tarzanka" - eine Affenschaukel. Die sah folgendermaßen aus: An einen Ast in etwa drei Metern Höhe war ein Seil gebunden, am unteren Ende des Seiles war ein dicker Stock von etwa einem Meter Länge gebunden. Wenn man an den Stock heranging, hing er etwa in Brusthöhe. Ein paar Schritte weiter vorn begann ein steiler Abhang. Wenn man also den Stock mit beiden Händen ergriff, sich daran festhielt und abstieß, konnte man damit in den Wald hineinschaukeln und zurück. Die Jungs, schon etwas angetrunken, fingen sofort damit an. Nur ich stellte mich zu blöd an: Ich fiel hin, verknackste mir den Fuß und konnte nicht mehr laufen. Da saß ich nun im Gras, während die anderen mir mit einem Tuch den Fuß verbanden. "Sieht aus wie eine rote Fahne", sagte jemand, und ich meinte: "Na, dann könnt ihr diese ja endlich am Berliner Reichstag hissen." Alle prusteten los und schlugen sich auf die Schenkel. Danach trugen mich die Jungs abwechselnd durch den Wald. Sara's Kommentar dazu: "So wär's gewesen, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte: Die Deutschen nutzen die Sowjets als Lasttiere." - Wir erreichten einen kleinen Teich. Überall saßen Leute an Lagerfeuern und sangen: "Tag des Sieges, Tag des Sieges." Andrei ging zu einer Familie und kam mit einem Herrn zurück. Wir fragten ihn: "Sind Sie Arzt?" - "Ja, ich bin Psychologe." Er nahm meinen Fuß in die Hand, bewegte ihn. "Tut es weh?" -"Jaaa!" Er drehte ihn in die andere Richtung: "Und jetzt?" - "Jaaaa!" Andrei verscheuchte ihn und fand schließlich jemanden, der bereit war, uns zum Wohnheim zu fahren. Dort angekommen, legte ich mich auf's Bett, und Andrei rief irgendwo an. Sara schaltete mir den Fernseher ein, ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Allerdings konnte ich das Fernsehen nicht wirklich genießen: Das erste, was ich dort sah, war... das zerstörte Berlin und einen Soldaten, der die sowjetische Fahne auf dem Reichstag hisste. Dazu lief sowjetische Kriegsmusik. Sara stürmte ins Zimmer. Einziger Kommentar: "Das ist schrecklich". Sie schaltete aus. - Die Krankenschwester kam inzwischen, ich wurde mittels Krankenwagen in die nächste Klinik gebracht. Da saß ich nun, zusammen mit den Jungs, wir warteten. Andrei schaute sich schon mal den Röntgenapparat im Nebenzimmer an und erzählte mir: "Sieht aus wie ein kleiner Reaktor." - "Danke", knurrte ich. Trotzdem musste ich das Röntgen über mich ergehen lassen und bekam Gips, den ich zwei Wochen tragen musste... Andrei schrieb mir später auf's Gipsbein: "Tag des Sieges" und malte einen Sowjetstern daneben. Auf die andere Seite schrieb er: "Der Feind geht nicht vorbei. Die Partisanen". Und auf die Ferse malte er das Zeichen für Radioaktivität: "Nach Tschernobyl sind's noch 100 Kilometer."
Kaggi-Karr - 14. Jan, 18:23