Winter im Samiland
Karasjok ist eine winzige Siedlung in Nordnorwegen, 600 km nördlich des Polarkreises, nahe der finnischen Grenze. Der Ort liegt in einem Talkessel, durch den sich das Flüsschen Karasjohkka schlängelt, und ist von einem schmalen Gürtel Nadelwald umschlossen, den Ausläufern der finnischen Taiga. Auf norwegischer Seite jedoch dehnt sich die endlose Finnmarksvidda, eine Hochebene mit karger Tundra-Vegetation. Bis zu den nächsten Dörfern, Kautokeino und Lakselv, sind es etwa eine Stunde Autofahrt. Hier ist Norwegens Lappland, hier lebt die nordskandinavische Urbevölkerung – die Samen.
Willkommen in Karasjok! (Autor: tb12415)
Ich hatte vor, ein Semester an der Karasjoker Schule als Sprachassistent zu arbeiten. Als ich an einem Herbstabend im Hause meiner Gast-Oma ankam, war eine meiner ersten Fragen: „Wie komme ich Stadtzentrum?“ – Meine Gast-Oma lachte sich kaputt: „Was für ne Stadt, was für ein Zentrum? Geh 10 min die Straße runter, bis zur Kreuzung, dort siehst du zwei Tankstellen, einen Supermarkt und eine Post. Das ist das Zentrum!“
Trotz seiner Winzigkeit und seiner nicht ganz 3000 Einwohner ist Karasjok neben Kautokeino das Hauptsiedlungsgebiet der Samen. Hier steht das Samische Parlament; hier sind samische Fernsehen und Radio ansässig. 80 Prozent der Bevölkerung sprechen Samisch als Muttersprache, die meisten beherrschen auch Norwegisch. In Karasjok kann man beide Sprachen hören.
Leute, die nicht aus Karasjok sind, werden manchmal misstrauisch beäugt. Eine Samin in Volkstracht kam mir mal auf der Straße entgegen, blieb stehen, musterte mich: „Woher sind Sie?“ – „Aus Deutschland.“ – „Und was machen Sie hier?“ – „Ich arbeite an einer Schule.“ - „Aaaah, dann weiß ich, wer Sie sind.“ Sie schaute mich einen Augenblick befriedigt an und ging weiter. Ich bin von ihr nie wieder angesprochen worden.
Ähnlich auch eine Enkelin meiner Gast-Oma: Ich sah sie mehrmals in deren Haus. Sie sprach nie ein Wort mit mir, grüßte nicht einmal. Samstagnacht in der Dorfkneipe kam sie aber mal ganz unverhofft auf mich zugetorkelt, umarmte mich und schrie mir ins Ohr: „Hey, kennst du mich nicht mehr? Ich bin die Mona! So schön, dich zu sehen!“
Intrigue singt beim Sami Grand Prix. (Autor: the3v1)
Diese Kneipe war keine andere als die „Rypa“ – zu Deutsch: Das Schneehuhn. Schon wenige Tage nach meiner Ankunft erzählten mir meine neuen Freunde – Steffi aus Deutschland und Sol aus Spanien - von der „Rypa“: „Jedes Wochenende fahren die Karasjoker nach Karigasniemi, das ist das erste Dorf hinter der finnischen Grenze, und betrinken sich dort – in Finnland ist der Alkohol nämlich billiger. Wenn in Karigasniemi die Kneipe zumacht, kommen sie zurück nach Karasjok, gehen in die Rypa und feiern. Das ist so gegen halb eins, und erst da wird’s in der Rypa richtig lustig. – Übrigens, ab nächste Woche treffen wir uns jeden Freitagabend in deiner Wohnung machen Party; und halb eins gehen wir in die Kneipe.“ – Ich guckte etwas verdattert. – „Diese Tradition haben wir eingeführt, als deine Vorgängerin in deiner Wohnung gewohnt hat. Von da aus sind es nämlich nur fünf Minuten zur Rypa, das macht dann nicht so viel aus bei -30 Grad.“ Das klang einleuchtend. Da ich für die Freitagabende sowieso keine konkreten Pläne hatte, war ich einverstanden, und die gute alte Tradition wurde fortgesetzt.
In den folgenden Freitagabenden versammelten sich also einige Leute in meiner Wohnung (soll heißen: in der meiner Gast-Oma): Steffi, Sol, zwei russische Austausch-Schülerinnen und ich. Hier gab’s Abendessen, Vorglühen und Musik, die vor dem Kneipenbesuch noch einmal richtig einheizen sollte. Das waren in erster Linie die Party-Hits von Intrigue, der erfolgreichsten samischen Hardrock-Band. Die sind – natürlich – aus Karasjok. Die bekanntesten Intrigue-Songs sind Rock-Versionen traditioneller samischer Lieder – des Joik. Das ist so eine Art Oberton-Gesang, ähnlich dem Jodeln, mit denen die Samen Personen, Tiere, Naturphänomene oder bestimmte Plätze besingen. Nachdem wir uns also eingestimmt hatten, gingen wir geschlossen zur Rypa, tranken Bier und tanzten. Am ersten Abend war ich als „Neue“ noch interessant für die dortige Männerschaft. Es war etwa zwei Uhr morgens, als ein ziemlich betrunkener Mann mich auf ein Bier einlud und bei der Gelegenheit auf mich einredete: ”I’m a hunter, I’m a hunter.” Und wollte mich partout zur Schneehuhnjagd am Sonntag einladen. Nachdem ich mehrmals dankend abgelegt hatte, versuchte er es anders: ”Come to my home, I’ll show you my weapons.” Ich lachte mich kaputt. – Manchmal, wenn die Stimmung besonders gut war, begannen die Kneipenbesucher zu joiken. Einer fing an, die andern stimmten ein.
Das Verfolgen der Rentierherden geschieht heute per Motorschlitten. Musik: Intrigue. (Autor: tb12415)
An fast allen Freitagabenden, die ich in der Kneipe verbrachte, geschah es, dass mich der milchgesichtiger 18-Jähriger, der in der Schul-Kantine arbeitet, zum letzten Tanz einlud. Na gut, zum Tanzen ließ ich mich noch überreden. Nach dem letzten Song aber schaute er mich jedes Mal treuherzig an: „Komm zu mir nach Hause.“ – „Nein.“ – „Ich koch dir Kaffee.“ – „Nein.“ – „Wir gehen auf die Jagd am Sonntag.“ - „Nein.“ – „Warum denn nicht?“ – Ich ließ ihn stehen. Später wurde ich von Steffi über diese Gepflogenheit aufgeklärt: „Hier in Norwegen unterscheidet man zwischen Vorspiel und Nachspiel. Vorspiel ist das Vorglühen. Dann geht man in die Kneipe. Nachspiel ist das Weiterfeiern auf einer privaten Party. Und das kann durchaus in einer Orgie ausarten.“ – Aha. Und eine Russin aus dem Nachbardorf setzte dem Ganzen noch eins drauf: „Manche Dörfer hier sind wie ein großes Bett, und alle schlafen unter einer Decke.“
An der Schule bekam ich Samisch-Unterricht. Nicht gerade spannend, wenn man z.B. Stunden über einer Tabelle mit einer einzigen Verb-Konjugation sitzen muss oder eine Dreiviertelstunde lang erklärt bekommt, was ein Akkusativ ist und wie er gebildet wird. Solche feinen Sachen gibt’s nämlich im Norwegischen nicht; Grammatik-Regeln sind für viele Norweger schlicht eine Qual. Interessant waren jedoch die Landeskunde-Einheiten, wo wir Filme über die samische Kultur sahen. Eine der Stories ist mir noch gut in Erinnerung: In den 90er Jahren ist mal ein Dresdner im Trabi von Dresden nach Karasjok gefahren, um sich einen der Orte live anzuschauen, den sein geliebter Wustmann, ein deutscher Ethnologe, einst erforscht hat. Der Dresdner schenkte seinen himmelblauen Trabi dem Samischen Radio und begab sich im Flugzeug zurück nach Deutschland. Der Trabi steht heute immer noch Studio des Samiradio in Karasjok.
Sol hatte einige Tage Besuch von ihrem spanischen Freund und lud uns zu einer kleinen Feier ein. Ihr Freund wurde augenblicklich von uns unter die Lupe genommen: Mitte Zwanzig, rotblonde lockige schulterlange Haare, braune Augen, schüchternes liebes Lächeln. Und irgendwie verliebten wir uns alle in ihn: Steffi, Giselle, die russischen Austausch-Schülerinnen, meine Gast-Oma – und ich. Meine Gast-Oma nannte ihn zärtlich »Chappa ganda« - das ist samisch und bedeutet »hübscher Junge«. Wie schockiert waren wir aber, als wir erfuhren, dass Sol mit ihm Schluss gemacht hatte! Und sich vor Ort einen neuen Liebhaber zugelegt hatte – viel jünger als sie und dazu, für unsere Begriffe, potthässlich. Niemand konnte das verstehen. Und der rotgelockte Chappa ganda begab sich nach wenigen Tagen Richtung Süden, ohne dass wir je wieder etwas von ihm sahen. – Dennoch: »Chappa ganda« ist eines der wenigen samischen Wörter, die ich wohl nie vergessen werde.
Ende November sah ich die Sonne das letzte Mal. Dann senkte sich die Polarnacht über Karasjok, die in diesen Breiten etwa zwei Monate dauert. Die Norweger nennen diese Zeit mörketid – die dunkle Zeit. Es ist aber nicht ständig stockfinster. Von acht bis zwölf vormittags besteht so etwas Ähnliches wie Dämmerung: Es wird gerade hell genug, dass es sich lohnt, die Strassenbeleuchtung zumindest für ein paar Stunden auszuschalten. Merkwürdig ist es schon, wenn du im Büro sitzt und gegen zwölf Uhr mittags merkst, dass es schon wieder dunkel ist. Unheimlich. Die Nordnorweger aber mögen diese Zeit: »Depressionen? Nein, haben wir nicht. Der Dezember vergeht mit Weihnachtsvorbereitungen, dann kommen Weihnachten und Neujahr, und dann ist es nicht mehr lange bis Ende Januar, wo die Sonne zurückkommt. Es gibt immer was, worauf man sich freuen kann.« - »Diese Zeit ist so gemütlich! Im Sommer, bei Mitternachtssonne, möchtest du ständig irgendwo draussen sein, weil du glaubst, sonst was zu verpassen. In der Polarnacht dagegen wirst du ganz ruhig und ausgeglichen, machst Sachen, die du sonst nicht machst – zum Beispiel dich aufs Sofa legen und ein gutes Buch lesen. Wenn du es geselliger magst, zündest du im ganzen Haus Kerzen an und lädst Freunde ein.« -
Die Kälte war eine ganz neue Erfahrung. Ich hatte mich zwar mit Goretex-Jacke, Thermohose und superwarmen Rentierfell-Schuhen, sogenannten Skallern, ausgestattet. Bei minus dreissig Grad reichte das aber gerade mal, um mich für den 15minütigen Schulweg warmzuhalten. Nach etwa einer Viertelstunde fiel mir nämlich das Atmen schwer, die Luft schien in Kehle und Nase zu gefrieren. Und da helfen selbst die besten Klamotten nicht. Meine Kollegen aber gingen ganz entspannt mit diesen Temperaturen um. Im Schulhaus hörte ich einmal, wie in Kollege zum anderen sagte: »Minus dreissig Grad... So einen milden Winter haben wir aber lange nicht mehr gehabt.« - Irgendwo haben sie Recht: Angeblich liegt die Februar-Durchschnittstemperatur in Karasjok bei -40 Grad. Aber das war vor dem Beginn des Klimawandels.
Das heilige Rentier! Musik: Intrigue (Autor: peteregor)
Winter. Ich machte mit meinen Schülern eine Wochenend-Tour auf die Finnmarksvidda, die Hochebene. Wir übernachteten in einem Lavvu, dem transportablen Zelt der Samen, ähnlich einem Tipi. In der Mitte dieses Lavvu wurde eine Feuerstelle errichtet, der festgetrampelte Schnee drumherum mit Rentierfellen ausgelegt. So sassen wir, jeder eingemummelt in sein Scooterdress, tranken Tee direkt vom Wasserkessel und unterhielten uns. Einer der Camp-Leiter erzählte von den Trips, die für die nächsten Wochen geplant waren: Eisangeln, Robbenfang, Rentierschlachten. So ganz nebenbei bekam er mit, dass ich aus Deutschland bin, und meinte vorwurfsvoll zu mir: »Ihr Deutschen habt eine komische Auffassung von Umweltschutz. Ihr nennt uns Barbaren, nur weil wir Robben schlachten. Aber unsere Tiere hier in der nordischen Wildnis haben ein freies Leben, bevor sie getötet werden. Während bei euch die Schweine und Hühner unter grausigsten Bedingungen ihr Leben lang in engen Ställen oder Käfigen massenweise dahinvegetieren und mit Chemie vollgepumpt werden. Das ist völlig wider die Natur. Und ihr zeigt mit dem Finger auf UNS ?« - Ich konnte nichts erwiedern.... Später Abend. Ich musste auf Toilette. Weit und breit keine sanitäre Einrichtung. Also raus in die Tundra und einen Busch suchen. Da hockte ich nun, mitten auf einer kargen, verschneiten Hochebene bei -20 Grad. Über mir Vollmond und waberndes Nordlicht, so ein schmaler grünlicher Streifen am Horizont. vor mir ein Lavvu, aus dessen Öffnung Rauch aufstieg. Grosser Gott, wo war ich???... Ich kroch ins Zelt zurück, mummelte mich in meinen Daunen-Schlafsack und und schlief ein. In den frühen Morgenstunden wachte ich fröstelnd auf. Rieb mir die Augen: Dusternis. Rentierfelle. Schlafende Menschen. An der Feuerstelle sass ein Mädchen mit Pelzmütze und rauchverschmiertem Gesicht. Legte neue Scheite ins Feuer. Schaute mich an und fragte freundlich: »Ist dir kalt?« - Ich war verwirrt. Brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo ich eigentlich war. Die Minuten vergingen, es wurde wärmer, und ich schlief wieder ein...
Am nächsten Tag erlebte ich die Rentierscheidung. Mittels Motorschlitten wurden alle Rentiere der Region zusammengetrieben und nacheinander in ein Gatter geschleust, um die Kälber zu markieren. Weiterhin wurden einige Rentiere zum Schlachten ausgewählt. An einem Lagerfeuer standen die Herdenbesitzer, jeder von Kopf bis Fuss in Rentierfelle gekleidet und mit einem am Gürtel baumelnden Samenmesser. Die Rentiere kamen eins nach dem anderen angetrabt, wurden begutachtet, und gegebenenfalls markiert bzw. aussortiert. Anschliessend wurde eines der Tiere öffentlich geschlachtet. Das ging weniger blutrünstig vonstatten, als man sich das vorstellt: Ein gezielter Messerstoss ins Herz – das war's. Das Tier wurde daraufhin an Ort und Stelle gehäutet und zerlegt; das Blut wurde abgelassen und aufgefangen. Aus Blut, Talg, Mehl und Salz wurden Klösschen geformt und in kochendes Wasser geworfen, welches im Kessel über der Lavvu-Feuerstelle lustig vor sich hin brodelte. Wir gingen ins Lavvu und machten es uns auf den Rentierfellen gemütlich. Nach wenigen Minuten waren die Klösschen gar und wurden mit grossem Appetit verspeist.
Auch dieser Tag ging zu Ende, und vor der Abfahrt ging ich noch eine Runde spazieren. Schaute in die Weite und hörte in Gedanken... samischen Joik. Erst jetzt, nach all diesen Erlebnissen auf der winterlichen Hochebene, unter Mond und Nordlicht, mit den Samen und Rentieren, verstand ich, wie gut der Joik die Seele dieser Landschaft widerspiegelt.
"The Eternal Journey", von Wimme, einer finnisch-samischen Gruppe. Im Video bekommt man einen kleinen Eindruck von der traditionellen samischen Kultur. Die Zeichen/Zeichnungen stammen übrigens von Schamanentrommeln. (Autor: apapat)
März. In der Schule erzählte ich über das Osterfest in Deutschland: ”Zu Ostern ist es in Deutschland warm, alles grünt und blüht, die Vögel zwitschern, und die Menschen gehen spazieren.” Reaktion der Schüler: ”Was, kein Schnee zu Ostern? Das ist doch langweilig. Was macht ihr da eigentlich?” – Ich: ”Wieso, was macht ihr denn zu Ostern?” – ”Skilaufen, Motorschlitten fahren, Rentierschlittenrennen…” Tatsache: Die Samen haben einen völlig anderen Bezug zu Ostern. Es ist die Zeit, wo die Sonne wieder scheint und auch schon etwas wärmt. Die Kinder haben eine Woche Ferien, was auch wirklich nötig ist, will man alles mitnehmen, was sich so anbietet. Zum einen natürlich Wintersport: Skilaufen und das heißgeliebte Motorschlittenfahren. Außerdem finden in der Osterwoche in den samischen Siedlungen unterschiedlichste Veranstaltungen statt: Hochzeiten, Konfirmationen, Rentier- und Motorschlittenrennen, Konzerte, Festivals, der samische Grand Prix. Und in den Kneipen tanzen Samen in ihrer traditionellen Kleidung – der bestickten „samekofte“ (Jacke) und der „stjernelua“ – einer vierzipfligen Mütze. Karasjok scheint endgültig aus dem Winterschlaf erwacht zu sein.
Diese Nummer war 2000 der Frühlings-Hit in Karasjok. (Autor: amacath)
Gegen Ende meines Aufenthaltes erfüllte ich mir einen Wunschtraum: Eine Hundeschlittentour. Ich fuhr also per Taxi zu Sven Engholm, der am Rande von Karasjok eine Husky-Farm besass. Er führte eine Jugendherberge und bot Husky-Touren für Touristen an. Als ich ankam, dachte ich erstmal, ich wäre im Alaska der Goldgräber gelandet: Verwitterte Hütten aus unbehandeltem Holz, Rentiergeweihe, Schneeschuhe. Und Hunde, viele Hunde, Das Gebell war ohrenbetäubend. Und eine sagenhafte Landschaft: Ein zugefrorener Fluss, auf der einen Seite gesäumt von Nadelwald und Hügeln, auf der anderen Seite von baumloser Tundra, bis zum Horizont. Die Sonne schien vom wolkenfreien Himmel über das verschneite Land. Sven Engholm sagte uns, dass das Wetter ideal ist zum Hundeschlittenfahren: Sonne und 10 Grad Frost. Dann machte er sich ans Werk: Er nahm zwei Schlitten und spannte an beide je sechs Hunde an. Dann verband er die Schlitten mit einem Seil. Er fuhr im ersten Schlitten und gab die Kommandos, ich fuhr im zweiten Schlitten. Wahnsinn: Du stehst auf einer Art Trittbrett am hinteren Teil des Schlittens, schaust auf die wogenden Schwänze der Hunde und musst eigentlich gar nichts machen: Die Hunde laufen das Flussbett entlang, genau in der Spur, die die Hunde vom vorderen Schlitten hinterlassen hatten. Und so bleibt genug Zeit, die grandiose Landschaft zu geniessen. Nach etwa einer Stunde stoppte Sven Engholm an einem kleinen Rastplatz. Er machte ein Feuerchen mitten im Schnee und setzte einen kleinen Teekessel darauf – zum Kaffeewasser-Kochen. Wir setzten uns auf die umliegenden, mit Rentierfellen gepolsterten Bänke. Als das Wasser kochte, wurden wir von Sven mit Kaffee und einem kleinen Frühstück bewirtet. Nebenbei erzählte er ein paar Geschichten aus seinem Leben: 11 Mal hintereinander hat der den Finnmarksløpet gewonnen, das schwierigste Hundeschlittenrennen Europas. Ihn langweilte die ganze Sache schon, und er bereitete sich inzwischen auf den Yukon Quest vor, das bekannte alljährliche Hundeschlittenrennen in Alaska. »Eigentlich ist es kein Problem, ein Rennen zu gewinnen«, erklärte er mir. »Man muss nur seine Hunde gut behandeln, das ist das ganze Geheimnis.«
Hundeschlitten-Fahrt. Los geht's! (Autor: debsquinn)
Sven Engholm war nicht die einzige berühmte Person, die ich in Karasjok kennengelernt hatte. In der Neujahrsnacht traf ich Mari Boine, die bekannteste samischsprachige Sängerin weltweit. In der Disco lud mich der Gitarrist der samischen Rock-Band »Intrigue« auf ein Bier ein. Und in der Dorfverwaltung traf ich einen Mann, der zumindest mit einer bekannten Person verwandt war: Er war der Urenkel von Samuel Balto, der 1888/89 mit Nansen Grönland durchquert hatte.
Im April war mein Praktikum beendet. Ich fuhr mit dem Bus zum nächsten Flughafen. Ächzend und mit fürchterlichem Geknatte erhob sich die kleine Propellermaschine, um im Tiefflug über Vidda und Lynger Alpen die Polar-Metropole Tromsö zu erreichen. Von dort aus ging es über Oslo nach Frankfurt/Main. Ziemlich erleichtert, ohne Zwischenfälle in Deutschland angekommen zu sein, streunte ich durch die Frankfurter Flughafenhallen... Und sah plötzlich ein Plakat mit folgendem Foto: Schneelandschaft – und ein Mensch im Scooterdress, der stolz seinen coolen Motorschlitten präsentiert. Hey, dachte ich, das ist bestimmt in Karasjok ... Erst dann sah ich, was auf dem Plakat geschrieben stand: »Liebe Fluggäste, bitte achten Sie darauf, dass Sie sich wirklich zum richtigen Gate begeben – damit Sie nachher nicht SONST WO landen.« Gott, wo bin ich nur gewesen???
Willkommen in Karasjok! (Autor: tb12415)
Ich hatte vor, ein Semester an der Karasjoker Schule als Sprachassistent zu arbeiten. Als ich an einem Herbstabend im Hause meiner Gast-Oma ankam, war eine meiner ersten Fragen: „Wie komme ich Stadtzentrum?“ – Meine Gast-Oma lachte sich kaputt: „Was für ne Stadt, was für ein Zentrum? Geh 10 min die Straße runter, bis zur Kreuzung, dort siehst du zwei Tankstellen, einen Supermarkt und eine Post. Das ist das Zentrum!“
Trotz seiner Winzigkeit und seiner nicht ganz 3000 Einwohner ist Karasjok neben Kautokeino das Hauptsiedlungsgebiet der Samen. Hier steht das Samische Parlament; hier sind samische Fernsehen und Radio ansässig. 80 Prozent der Bevölkerung sprechen Samisch als Muttersprache, die meisten beherrschen auch Norwegisch. In Karasjok kann man beide Sprachen hören.
Leute, die nicht aus Karasjok sind, werden manchmal misstrauisch beäugt. Eine Samin in Volkstracht kam mir mal auf der Straße entgegen, blieb stehen, musterte mich: „Woher sind Sie?“ – „Aus Deutschland.“ – „Und was machen Sie hier?“ – „Ich arbeite an einer Schule.“ - „Aaaah, dann weiß ich, wer Sie sind.“ Sie schaute mich einen Augenblick befriedigt an und ging weiter. Ich bin von ihr nie wieder angesprochen worden.
Ähnlich auch eine Enkelin meiner Gast-Oma: Ich sah sie mehrmals in deren Haus. Sie sprach nie ein Wort mit mir, grüßte nicht einmal. Samstagnacht in der Dorfkneipe kam sie aber mal ganz unverhofft auf mich zugetorkelt, umarmte mich und schrie mir ins Ohr: „Hey, kennst du mich nicht mehr? Ich bin die Mona! So schön, dich zu sehen!“
Intrigue singt beim Sami Grand Prix. (Autor: the3v1)
Diese Kneipe war keine andere als die „Rypa“ – zu Deutsch: Das Schneehuhn. Schon wenige Tage nach meiner Ankunft erzählten mir meine neuen Freunde – Steffi aus Deutschland und Sol aus Spanien - von der „Rypa“: „Jedes Wochenende fahren die Karasjoker nach Karigasniemi, das ist das erste Dorf hinter der finnischen Grenze, und betrinken sich dort – in Finnland ist der Alkohol nämlich billiger. Wenn in Karigasniemi die Kneipe zumacht, kommen sie zurück nach Karasjok, gehen in die Rypa und feiern. Das ist so gegen halb eins, und erst da wird’s in der Rypa richtig lustig. – Übrigens, ab nächste Woche treffen wir uns jeden Freitagabend in deiner Wohnung machen Party; und halb eins gehen wir in die Kneipe.“ – Ich guckte etwas verdattert. – „Diese Tradition haben wir eingeführt, als deine Vorgängerin in deiner Wohnung gewohnt hat. Von da aus sind es nämlich nur fünf Minuten zur Rypa, das macht dann nicht so viel aus bei -30 Grad.“ Das klang einleuchtend. Da ich für die Freitagabende sowieso keine konkreten Pläne hatte, war ich einverstanden, und die gute alte Tradition wurde fortgesetzt.
In den folgenden Freitagabenden versammelten sich also einige Leute in meiner Wohnung (soll heißen: in der meiner Gast-Oma): Steffi, Sol, zwei russische Austausch-Schülerinnen und ich. Hier gab’s Abendessen, Vorglühen und Musik, die vor dem Kneipenbesuch noch einmal richtig einheizen sollte. Das waren in erster Linie die Party-Hits von Intrigue, der erfolgreichsten samischen Hardrock-Band. Die sind – natürlich – aus Karasjok. Die bekanntesten Intrigue-Songs sind Rock-Versionen traditioneller samischer Lieder – des Joik. Das ist so eine Art Oberton-Gesang, ähnlich dem Jodeln, mit denen die Samen Personen, Tiere, Naturphänomene oder bestimmte Plätze besingen. Nachdem wir uns also eingestimmt hatten, gingen wir geschlossen zur Rypa, tranken Bier und tanzten. Am ersten Abend war ich als „Neue“ noch interessant für die dortige Männerschaft. Es war etwa zwei Uhr morgens, als ein ziemlich betrunkener Mann mich auf ein Bier einlud und bei der Gelegenheit auf mich einredete: ”I’m a hunter, I’m a hunter.” Und wollte mich partout zur Schneehuhnjagd am Sonntag einladen. Nachdem ich mehrmals dankend abgelegt hatte, versuchte er es anders: ”Come to my home, I’ll show you my weapons.” Ich lachte mich kaputt. – Manchmal, wenn die Stimmung besonders gut war, begannen die Kneipenbesucher zu joiken. Einer fing an, die andern stimmten ein.
Das Verfolgen der Rentierherden geschieht heute per Motorschlitten. Musik: Intrigue. (Autor: tb12415)
An fast allen Freitagabenden, die ich in der Kneipe verbrachte, geschah es, dass mich der milchgesichtiger 18-Jähriger, der in der Schul-Kantine arbeitet, zum letzten Tanz einlud. Na gut, zum Tanzen ließ ich mich noch überreden. Nach dem letzten Song aber schaute er mich jedes Mal treuherzig an: „Komm zu mir nach Hause.“ – „Nein.“ – „Ich koch dir Kaffee.“ – „Nein.“ – „Wir gehen auf die Jagd am Sonntag.“ - „Nein.“ – „Warum denn nicht?“ – Ich ließ ihn stehen. Später wurde ich von Steffi über diese Gepflogenheit aufgeklärt: „Hier in Norwegen unterscheidet man zwischen Vorspiel und Nachspiel. Vorspiel ist das Vorglühen. Dann geht man in die Kneipe. Nachspiel ist das Weiterfeiern auf einer privaten Party. Und das kann durchaus in einer Orgie ausarten.“ – Aha. Und eine Russin aus dem Nachbardorf setzte dem Ganzen noch eins drauf: „Manche Dörfer hier sind wie ein großes Bett, und alle schlafen unter einer Decke.“
An der Schule bekam ich Samisch-Unterricht. Nicht gerade spannend, wenn man z.B. Stunden über einer Tabelle mit einer einzigen Verb-Konjugation sitzen muss oder eine Dreiviertelstunde lang erklärt bekommt, was ein Akkusativ ist und wie er gebildet wird. Solche feinen Sachen gibt’s nämlich im Norwegischen nicht; Grammatik-Regeln sind für viele Norweger schlicht eine Qual. Interessant waren jedoch die Landeskunde-Einheiten, wo wir Filme über die samische Kultur sahen. Eine der Stories ist mir noch gut in Erinnerung: In den 90er Jahren ist mal ein Dresdner im Trabi von Dresden nach Karasjok gefahren, um sich einen der Orte live anzuschauen, den sein geliebter Wustmann, ein deutscher Ethnologe, einst erforscht hat. Der Dresdner schenkte seinen himmelblauen Trabi dem Samischen Radio und begab sich im Flugzeug zurück nach Deutschland. Der Trabi steht heute immer noch Studio des Samiradio in Karasjok.
Sol hatte einige Tage Besuch von ihrem spanischen Freund und lud uns zu einer kleinen Feier ein. Ihr Freund wurde augenblicklich von uns unter die Lupe genommen: Mitte Zwanzig, rotblonde lockige schulterlange Haare, braune Augen, schüchternes liebes Lächeln. Und irgendwie verliebten wir uns alle in ihn: Steffi, Giselle, die russischen Austausch-Schülerinnen, meine Gast-Oma – und ich. Meine Gast-Oma nannte ihn zärtlich »Chappa ganda« - das ist samisch und bedeutet »hübscher Junge«. Wie schockiert waren wir aber, als wir erfuhren, dass Sol mit ihm Schluss gemacht hatte! Und sich vor Ort einen neuen Liebhaber zugelegt hatte – viel jünger als sie und dazu, für unsere Begriffe, potthässlich. Niemand konnte das verstehen. Und der rotgelockte Chappa ganda begab sich nach wenigen Tagen Richtung Süden, ohne dass wir je wieder etwas von ihm sahen. – Dennoch: »Chappa ganda« ist eines der wenigen samischen Wörter, die ich wohl nie vergessen werde.
Ende November sah ich die Sonne das letzte Mal. Dann senkte sich die Polarnacht über Karasjok, die in diesen Breiten etwa zwei Monate dauert. Die Norweger nennen diese Zeit mörketid – die dunkle Zeit. Es ist aber nicht ständig stockfinster. Von acht bis zwölf vormittags besteht so etwas Ähnliches wie Dämmerung: Es wird gerade hell genug, dass es sich lohnt, die Strassenbeleuchtung zumindest für ein paar Stunden auszuschalten. Merkwürdig ist es schon, wenn du im Büro sitzt und gegen zwölf Uhr mittags merkst, dass es schon wieder dunkel ist. Unheimlich. Die Nordnorweger aber mögen diese Zeit: »Depressionen? Nein, haben wir nicht. Der Dezember vergeht mit Weihnachtsvorbereitungen, dann kommen Weihnachten und Neujahr, und dann ist es nicht mehr lange bis Ende Januar, wo die Sonne zurückkommt. Es gibt immer was, worauf man sich freuen kann.« - »Diese Zeit ist so gemütlich! Im Sommer, bei Mitternachtssonne, möchtest du ständig irgendwo draussen sein, weil du glaubst, sonst was zu verpassen. In der Polarnacht dagegen wirst du ganz ruhig und ausgeglichen, machst Sachen, die du sonst nicht machst – zum Beispiel dich aufs Sofa legen und ein gutes Buch lesen. Wenn du es geselliger magst, zündest du im ganzen Haus Kerzen an und lädst Freunde ein.« -
Die Kälte war eine ganz neue Erfahrung. Ich hatte mich zwar mit Goretex-Jacke, Thermohose und superwarmen Rentierfell-Schuhen, sogenannten Skallern, ausgestattet. Bei minus dreissig Grad reichte das aber gerade mal, um mich für den 15minütigen Schulweg warmzuhalten. Nach etwa einer Viertelstunde fiel mir nämlich das Atmen schwer, die Luft schien in Kehle und Nase zu gefrieren. Und da helfen selbst die besten Klamotten nicht. Meine Kollegen aber gingen ganz entspannt mit diesen Temperaturen um. Im Schulhaus hörte ich einmal, wie in Kollege zum anderen sagte: »Minus dreissig Grad... So einen milden Winter haben wir aber lange nicht mehr gehabt.« - Irgendwo haben sie Recht: Angeblich liegt die Februar-Durchschnittstemperatur in Karasjok bei -40 Grad. Aber das war vor dem Beginn des Klimawandels.
Das heilige Rentier! Musik: Intrigue (Autor: peteregor)
Winter. Ich machte mit meinen Schülern eine Wochenend-Tour auf die Finnmarksvidda, die Hochebene. Wir übernachteten in einem Lavvu, dem transportablen Zelt der Samen, ähnlich einem Tipi. In der Mitte dieses Lavvu wurde eine Feuerstelle errichtet, der festgetrampelte Schnee drumherum mit Rentierfellen ausgelegt. So sassen wir, jeder eingemummelt in sein Scooterdress, tranken Tee direkt vom Wasserkessel und unterhielten uns. Einer der Camp-Leiter erzählte von den Trips, die für die nächsten Wochen geplant waren: Eisangeln, Robbenfang, Rentierschlachten. So ganz nebenbei bekam er mit, dass ich aus Deutschland bin, und meinte vorwurfsvoll zu mir: »Ihr Deutschen habt eine komische Auffassung von Umweltschutz. Ihr nennt uns Barbaren, nur weil wir Robben schlachten. Aber unsere Tiere hier in der nordischen Wildnis haben ein freies Leben, bevor sie getötet werden. Während bei euch die Schweine und Hühner unter grausigsten Bedingungen ihr Leben lang in engen Ställen oder Käfigen massenweise dahinvegetieren und mit Chemie vollgepumpt werden. Das ist völlig wider die Natur. Und ihr zeigt mit dem Finger auf UNS ?« - Ich konnte nichts erwiedern.... Später Abend. Ich musste auf Toilette. Weit und breit keine sanitäre Einrichtung. Also raus in die Tundra und einen Busch suchen. Da hockte ich nun, mitten auf einer kargen, verschneiten Hochebene bei -20 Grad. Über mir Vollmond und waberndes Nordlicht, so ein schmaler grünlicher Streifen am Horizont. vor mir ein Lavvu, aus dessen Öffnung Rauch aufstieg. Grosser Gott, wo war ich???... Ich kroch ins Zelt zurück, mummelte mich in meinen Daunen-Schlafsack und und schlief ein. In den frühen Morgenstunden wachte ich fröstelnd auf. Rieb mir die Augen: Dusternis. Rentierfelle. Schlafende Menschen. An der Feuerstelle sass ein Mädchen mit Pelzmütze und rauchverschmiertem Gesicht. Legte neue Scheite ins Feuer. Schaute mich an und fragte freundlich: »Ist dir kalt?« - Ich war verwirrt. Brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo ich eigentlich war. Die Minuten vergingen, es wurde wärmer, und ich schlief wieder ein...
Am nächsten Tag erlebte ich die Rentierscheidung. Mittels Motorschlitten wurden alle Rentiere der Region zusammengetrieben und nacheinander in ein Gatter geschleust, um die Kälber zu markieren. Weiterhin wurden einige Rentiere zum Schlachten ausgewählt. An einem Lagerfeuer standen die Herdenbesitzer, jeder von Kopf bis Fuss in Rentierfelle gekleidet und mit einem am Gürtel baumelnden Samenmesser. Die Rentiere kamen eins nach dem anderen angetrabt, wurden begutachtet, und gegebenenfalls markiert bzw. aussortiert. Anschliessend wurde eines der Tiere öffentlich geschlachtet. Das ging weniger blutrünstig vonstatten, als man sich das vorstellt: Ein gezielter Messerstoss ins Herz – das war's. Das Tier wurde daraufhin an Ort und Stelle gehäutet und zerlegt; das Blut wurde abgelassen und aufgefangen. Aus Blut, Talg, Mehl und Salz wurden Klösschen geformt und in kochendes Wasser geworfen, welches im Kessel über der Lavvu-Feuerstelle lustig vor sich hin brodelte. Wir gingen ins Lavvu und machten es uns auf den Rentierfellen gemütlich. Nach wenigen Minuten waren die Klösschen gar und wurden mit grossem Appetit verspeist.
Auch dieser Tag ging zu Ende, und vor der Abfahrt ging ich noch eine Runde spazieren. Schaute in die Weite und hörte in Gedanken... samischen Joik. Erst jetzt, nach all diesen Erlebnissen auf der winterlichen Hochebene, unter Mond und Nordlicht, mit den Samen und Rentieren, verstand ich, wie gut der Joik die Seele dieser Landschaft widerspiegelt.
"The Eternal Journey", von Wimme, einer finnisch-samischen Gruppe. Im Video bekommt man einen kleinen Eindruck von der traditionellen samischen Kultur. Die Zeichen/Zeichnungen stammen übrigens von Schamanentrommeln. (Autor: apapat)
März. In der Schule erzählte ich über das Osterfest in Deutschland: ”Zu Ostern ist es in Deutschland warm, alles grünt und blüht, die Vögel zwitschern, und die Menschen gehen spazieren.” Reaktion der Schüler: ”Was, kein Schnee zu Ostern? Das ist doch langweilig. Was macht ihr da eigentlich?” – Ich: ”Wieso, was macht ihr denn zu Ostern?” – ”Skilaufen, Motorschlitten fahren, Rentierschlittenrennen…” Tatsache: Die Samen haben einen völlig anderen Bezug zu Ostern. Es ist die Zeit, wo die Sonne wieder scheint und auch schon etwas wärmt. Die Kinder haben eine Woche Ferien, was auch wirklich nötig ist, will man alles mitnehmen, was sich so anbietet. Zum einen natürlich Wintersport: Skilaufen und das heißgeliebte Motorschlittenfahren. Außerdem finden in der Osterwoche in den samischen Siedlungen unterschiedlichste Veranstaltungen statt: Hochzeiten, Konfirmationen, Rentier- und Motorschlittenrennen, Konzerte, Festivals, der samische Grand Prix. Und in den Kneipen tanzen Samen in ihrer traditionellen Kleidung – der bestickten „samekofte“ (Jacke) und der „stjernelua“ – einer vierzipfligen Mütze. Karasjok scheint endgültig aus dem Winterschlaf erwacht zu sein.
Diese Nummer war 2000 der Frühlings-Hit in Karasjok. (Autor: amacath)
Gegen Ende meines Aufenthaltes erfüllte ich mir einen Wunschtraum: Eine Hundeschlittentour. Ich fuhr also per Taxi zu Sven Engholm, der am Rande von Karasjok eine Husky-Farm besass. Er führte eine Jugendherberge und bot Husky-Touren für Touristen an. Als ich ankam, dachte ich erstmal, ich wäre im Alaska der Goldgräber gelandet: Verwitterte Hütten aus unbehandeltem Holz, Rentiergeweihe, Schneeschuhe. Und Hunde, viele Hunde, Das Gebell war ohrenbetäubend. Und eine sagenhafte Landschaft: Ein zugefrorener Fluss, auf der einen Seite gesäumt von Nadelwald und Hügeln, auf der anderen Seite von baumloser Tundra, bis zum Horizont. Die Sonne schien vom wolkenfreien Himmel über das verschneite Land. Sven Engholm sagte uns, dass das Wetter ideal ist zum Hundeschlittenfahren: Sonne und 10 Grad Frost. Dann machte er sich ans Werk: Er nahm zwei Schlitten und spannte an beide je sechs Hunde an. Dann verband er die Schlitten mit einem Seil. Er fuhr im ersten Schlitten und gab die Kommandos, ich fuhr im zweiten Schlitten. Wahnsinn: Du stehst auf einer Art Trittbrett am hinteren Teil des Schlittens, schaust auf die wogenden Schwänze der Hunde und musst eigentlich gar nichts machen: Die Hunde laufen das Flussbett entlang, genau in der Spur, die die Hunde vom vorderen Schlitten hinterlassen hatten. Und so bleibt genug Zeit, die grandiose Landschaft zu geniessen. Nach etwa einer Stunde stoppte Sven Engholm an einem kleinen Rastplatz. Er machte ein Feuerchen mitten im Schnee und setzte einen kleinen Teekessel darauf – zum Kaffeewasser-Kochen. Wir setzten uns auf die umliegenden, mit Rentierfellen gepolsterten Bänke. Als das Wasser kochte, wurden wir von Sven mit Kaffee und einem kleinen Frühstück bewirtet. Nebenbei erzählte er ein paar Geschichten aus seinem Leben: 11 Mal hintereinander hat der den Finnmarksløpet gewonnen, das schwierigste Hundeschlittenrennen Europas. Ihn langweilte die ganze Sache schon, und er bereitete sich inzwischen auf den Yukon Quest vor, das bekannte alljährliche Hundeschlittenrennen in Alaska. »Eigentlich ist es kein Problem, ein Rennen zu gewinnen«, erklärte er mir. »Man muss nur seine Hunde gut behandeln, das ist das ganze Geheimnis.«
Hundeschlitten-Fahrt. Los geht's! (Autor: debsquinn)
Sven Engholm war nicht die einzige berühmte Person, die ich in Karasjok kennengelernt hatte. In der Neujahrsnacht traf ich Mari Boine, die bekannteste samischsprachige Sängerin weltweit. In der Disco lud mich der Gitarrist der samischen Rock-Band »Intrigue« auf ein Bier ein. Und in der Dorfverwaltung traf ich einen Mann, der zumindest mit einer bekannten Person verwandt war: Er war der Urenkel von Samuel Balto, der 1888/89 mit Nansen Grönland durchquert hatte.
Im April war mein Praktikum beendet. Ich fuhr mit dem Bus zum nächsten Flughafen. Ächzend und mit fürchterlichem Geknatte erhob sich die kleine Propellermaschine, um im Tiefflug über Vidda und Lynger Alpen die Polar-Metropole Tromsö zu erreichen. Von dort aus ging es über Oslo nach Frankfurt/Main. Ziemlich erleichtert, ohne Zwischenfälle in Deutschland angekommen zu sein, streunte ich durch die Frankfurter Flughafenhallen... Und sah plötzlich ein Plakat mit folgendem Foto: Schneelandschaft – und ein Mensch im Scooterdress, der stolz seinen coolen Motorschlitten präsentiert. Hey, dachte ich, das ist bestimmt in Karasjok ... Erst dann sah ich, was auf dem Plakat geschrieben stand: »Liebe Fluggäste, bitte achten Sie darauf, dass Sie sich wirklich zum richtigen Gate begeben – damit Sie nachher nicht SONST WO landen.« Gott, wo bin ich nur gewesen???
Kaggi-Karr - 27. Aug, 17:23