Ende August 1999 fuhr ich für ein Jahr zum Studieren nach Kiew. Meine Ankunft in der ukrainischen Hauptstadt war abenteuerlich: Trotz Absprache wartete niemand von der Uni am Bahnhof auf mich. Zum Glück hatte ich Freunde in Kiew, die darauf bestanden hatten, mich abzuholen. Sie waren auch tatsächlich am Bahnhof, brachten mich erstmal bei sich zu Hause unter und fuhren gleich am nächsten Tag mit mir zur Uni. Der Chef der Internationalen Abteilung rief mich zu sich und entschuldigte sich wortreich: "Es tut mir Leid, die Sekretärin hat Ihre E-Mail nicht gelesen. Aber wir werden sie bestrafen." - Als ich das meiner österreichischen Mitstudentin erzählte, meinte die: "Ach Gott, die Arme, die sitzt bestimmt schon im Gulag." - Ob bzw. wie die Sekretärin bestraft wurde, haben wir nie erfahren.
Kiew. Mutter der russischen Städte und Jerusalem des Nordens. Stadt altehrwürdiger Klöster und goldener Kuppeln. Von hier fliesst der mächtige Dnepr Richtung Schwarzes Meer. An seinen Ufern wurde die Kiewer Rus christianisert; hier wurde nur wenige Jahre später nach dem Vorbild der Hagia Sophia die Sophienkirche erbaut – die älteste ostslawische Kathedrale.
Kiew. Musik/Text: Okean Elzy (Autor: dkmail1)
Hier schlängelt sich der Andreasabhang, der Andreewskii Spusk, von der Ober- in die Unterstadt: Montmartre-Pendant, Freilichtmuseum, Souvenier-Meile. Und: Hier ist Michail Bulgakow aufgewachsen. Sein Haus ist heute Museum.
Der Andreas-Abhang – Kiews Montmartre. Musik/Gesang: Vladimir Novikov (Autor: 95TIO)
Im ehrwürdigen Kiewer Höhlenkloster, dem wichtigsten Kloster der Kiewer Rus, wurden vor tausend Jahren Chroniken und Heiligenlegenden verfasst. Und hier, in Kiew, spielen die Heldenlieder von Ilja Muromets und Gogols Gruselgeschichte „Wij“.
“Wij”. Trailer der sowjetischen Verfilmung von 1967. (Autor: Ivan14100I)
Hier spricht man Russisch, Ukrainisch und „Surzhik“, ein Gemisch aus beidem. Nur hier gibt es so niedliche Wörter wie „schwydsche“ (schneller), „päräkladatsch“ (Übersetzer/Dolmetscher) und „schwydkoschtschyvatsch“ (Schnellhefter).
Hier gilt Folklore nicht als verstaubt, sondern als inspirierend: Die Hardrock-Band Vopli Vidopliassova hat zum Beispiel aus dem bekanntesten ukrainischen Volkslied „Pidmanula“ eine Ska-Version gemacht. Der Text, eine der unzähligen Varianten dieses Liedes, ist etwas frivoler als das Original.
Vopli Vidopliasova: "Pidmanula". Wie man sieht, hat die ukrainische Kosaken-Kultur nichts an ihrem Reiz verloren. Autor: kostyaric.
Hier hat Dynamo Kiew im Jahre 1999 im Halbfinale des UEFA-Cup kurzzeitig 3:0 gegen Bayern München geführt, ist dann aber nach einem unerwarteten 3:3 rausgeflogen.
Hier versinkt die Stadt im Frühling im Farbenrausch durch all die blühenden Flieder- und Kastanienbäume. Und von den grünen Hängen des Dnepr-Ufers grüssen die goldenen Kuppeln des Höhlenklosters.
Das Kiewer Höhlenkloster, erbaut im 11. Jahrhundert. (Autor: vadimpr1)
Hier dehnt sich die Pracht- und Flaniermeile„Kreschtschatik“ vom Bessarabischen Markt zum Dnepr, gesäumt von Stalin-Barock und Kastanienbäumen. Im Zentrum der Strasse: der riesige Unabhängigkeitsplatz, der seit den 90er Jahren ständig umgebaut und neu bestückt wird: noch grösser, noch prächtiger, noch protziger. Hier fand hier die Orange Revolution statt und nur wenige Monate später der Eurovision Song Contest.
Und nicht zuletzt: Seit Revolution und Eurovision können EU-Bürger nun visafrei in die Ukraine einreisen. Also: Auf nach Kiew!
Kiewer Walzer. Gesungen von Guliaev. (Autor: benya55)