Wladiwostok

Freitag, 14. Januar 2011

"Frauentag"

8. März, Frauentag, bei einer russischen Familie. Vater und Sohn quälen sich ab beim Staubsaugen. ”Das ist bei uns Tradition”, sagt mir die Mutter. ”Am Frauentag helfen die Männer im Haushalt, oder versuchen es zumindest.” – Ich fragte: ”Wie wäre es, wenn die das regelmäßig machen würden?” – ”Nein, das würde eh nicht funktionieren.”

Merke: Gejammert wird überall!

Auf der Fähre Popow-Insel - Wladiwostok.
Frage einer Russin:
”Leben die Menschen in Deutschland besser als die Menschen in Russland?” –
Ich:
”Materiell gesehen – sicher besser. Trotzdem aber jammern die Leute dauernd.” –
Miree aus Norwegen dreht sich zu uns um:
”Was, bei euch auch?” –
“Ja." -
"??? - Aber warum jammern den die Leute in Norwegen, das Land hat doch weltweit den höchsten Lebensstandard?” –
”Ja, aber das hat nichts zu sagen.”

Stärke zeigen

Ansprache eines hohen regionalen Politikers während 9.-Mai-Feierlichkeiten in Wladiwostok: ”Wir haben eine Armee, daraus folgt, wir haben Feinde. Wir wissen zwar nicht, wer diese Feinde sind, aber wir wissen, dass sie existieren.”

***
Ich hatte einen der vorderen Plätze in einem russischen Literaturwettbewerb für Jugendliche gewonnen und war zur Urkundenvergabe eingeladen. Ich kam also in den Raum, wo die Auszeichnung stattfinden sollte – alles hing voll mit Putinjugend-Propaganda. Dort saßen etwa 20 Jugendliche. Der ältliche Chef des ”Schriftstellerverbandes” hielt eine Ansprache über den Wettbewerb und bemerkte unter anderem: ”Einen Teil der Gedichte haben wir nicht berücksichtigt. Zum Beispiel solche: 'Mein Großvater war ein Vampir – er hat Lager gebaut und Kinder gefressen.' - Solcherlei Gedichte beleidigen die Generation unserer Väter und Großeltern und sind daher unzulässig.” Einer der Jugendlichen wollte etwas erwidern, wurde aber grob unterbrochen: ”Du bist jünger als ich, du hast mir nicht zu widersprechen.”

***
In der Wladiwostoker Mensa trägt eine Küchenfrau eine Schürze, auf deren Rückseite mit riesigen Lettern steht: “Russland ist eine eurasische Grossmacht. Wladimir Putin.”

Let's go birding!

In Wladiwostok besuchte mich eine deutsche Kollegin, Jurist und Hobby-Ornithologin. Die hatte sich in den Kopf gesetzt, allein auf die Russische Insel zu fahren und dort Vögel zu fotografieren. Nix war! Schon auf der Fähre lernte sie ein paar Leute kennen, die sie sofort in Beschlag nahmen und ihr die Insel zeigen wollten. Verzweifelt versuchte Claudia, mit ihrem Paar Brocken Russisch den Leuten klarzumachen, dass sie allein sein und Vögel beobachten will: ”Ptiiiza, piep, piep”… Zwecklos. Die Leute chauffierten sie kreuz und quer herum, machten mit ihr sogar einen Rundgang durch die Dorfschule. Dort wollten sie ihr durchaus Geschenke machen, suchten eine Weile und drückten ihr dann Folgendes in die Hand: Eine Zeitschrift mit dem Titel: ”Unsere Besten”, mit Reportagen über Putin und den Nationalisten Schirinowski, und - - - eine Biographie über General Schukow, der die Rote Armee nach Berlin geführt hat…

Übrigens: "Let's go birding" ist ein Insider-Spruch deutscher Ornithologen. Bedeutet nix anderes als: "Lasst uns Vögel angucken".

Picknick auf der Russki-Insel

Ich fuhr mit meiner deutschen Freundin auf die Russische Insel. Dort trafen wir, rein zufällig, ein paar Leute aus ihrem Aikido-Klub, die uns auch gleich zu einer Grillparty am Strand einluden. Nach den obligatorischen Schaschliks, Salaten und Wodkas wollte Tolik, dass wir Deutschen ein Lied singen. Johanna und ich schauten uns etwas hilflos an: ”Spontan Lieder singen ist bei uns nicht so üblich.” – Tolik: ”Gott, was seid ihr nur für ein trauriges Volk!” – ”Na gut”, meinte Johanna, ”wir könnten ja ’Moskauer Nächte’ singen.” Wir Deutschen begannen zu singen, die Russen sangen in etwas gequältem Tone mit. Ich überlegte mir eine neue Strategie und stimmte einen alten DDT-Hit an: ”Was ist Herbst? Das ist der Himmel. Der weinende Himmel unter den Füssen. In den Pfützen fliegen Vögel und Wolken umher. Herbst, wir waren lange nicht zusammen. Herbst, im Himmel verbrennt man Schiffe….” Jetzt waren die Russen schon viel munterer beim Mitsingen. Tolik schlug sich auf die Schenkel: ”Das ist schon fortgeschritten.” –

Party auf der Popow-Insel

Von Wladiwostok aus kann man wunderbar Insel-Hopping machen, nämlich zur Popow-Insel oder der Russischen Insel in der Peter-I.-Bucht. Ein Wochenend-Ausflug führte uns per Fähre zur Popow-Insel. Den Abend verbrachten wir mit Schaschlik-Grillen, Wein, Bier und Wodka. Unsere Norwegerin trank etwas über den Durst und versprach uns eine Knoblauch-Show, die sie uns allerdings nie vorführte. Unser Herbergsvater schaute sie mit heruntergeklappter Kinnlade an. – Wir begannen ein bisschen zu jammeren, weil es kühler wurde und wir befürchteten, uns in den Übernachtungs-Baracken zu Tode zu frieren. Die angebotenen Decken reichten nämlich nicht für alle. Der Herbergsleiter bot zweien von uns an, bei ihm zuhause zu übernachten. Margarita und ich stimmten todesmutig zu. Zuerst wollte er uns per Motorrad ins Dorf fahren. Man bedenke: Eine uralte Maschine, stockdunkles Terrain, mit schmalem Trampelpfad direkt an der Böschung, der Fahrer besoffen. Er beteuerte uns mehrmals, dass das kein Problem sei. Allerdings schaffte er es nicht, das Motorrad anzuschmeißen. Margarita und ich atmeten auf. So gingen wir also zu Fuss zum Dorf. Sergei führte uns in seine Neubauwohnung und war über die Maßen gastfreundlich uns gegenüber. Er wollte mit uns noch ein Weilchen zusammensitzen und Wein trinken. Das Problem war nur, dass Margarita zu kotzen begann, sobald sie die Wohnung betrat. Sergei und ich hatten alle Mühe, sauberzumachen und Margarita schlafen zu legen. Ich war nachher auch todmüde, aus dem Plaudern und Weintrinken wurde also nichts. Am nächsten Tag fuhr Sergei uns im Jeep zur Herberge, wo wir die anderen abholten und auf den Jeep verluden. Dann ging’s im Jeep zur Fähre – immer schön knapp an der Böschung vorbei. Nastja sang russische Rocksongs. Und wider Erwarten kamen wir wohlbehalten an der Fähre an.

Konzert und Vollmond

Juli und August sind in Wladiwostok ziemlich schwül und verrregnet, der September gilt dagegen als schönster Monat, weil warm und sonnig. Eine Zeit zum Genießen. Man stelle sich vor: Eine laue Septembernacht mit Vollmond. Auf dem Zentralen Platz von Wladiwostok, direkt am Hafen, findet ein kostenloses DDT-Konzert statt. Wenn ihr euch erinnert: Das ist die Band von dem im Petersburg-Kapitel erwähnten Schewtschuk. Zigtausend Leute strömen zusammen und füllen den gesamte Platz sowie die Einbuchtungen in die Zufahrtsstraßen. Bevor die Band auf der Bühne erscheint, wird zur Einstimmung Pink Floyd gespielt: ”Shine on you crazy diamond”…

Deutscher Einfluss

Wladiwostok hat trotz Ostasien-Lage auch einen deutschen Einschlag: Im späten 19. Jahrhundert wurde hier die deutsche Kaufhauskette ”Kunst und Albers” gegründet, die sich bis kurz nach der Revolution gehalten hat. Die Kaufhaus-Gebäude sind immer noch zu sehen. Es gibt zudem eine protestantische Kirche mit deutschem Pfarrer, der gleichzeitig Honorarkonsul ist (Gerüchten zufolge zieht er sich immer mal wieder in die Taiga zurück und geht auf Tigerjagd). Und ein deutscher Jurist schickt regelmäßig deutsche Opernssänger auf Konzertreise nach Wladiwostok.

Beherrscher des Ostens

Wladiwostok: ”Beherrsche den Osten”. Der Endpunkt der Transsib, 8 Tage Zugreise und knapp 10 000 km von Moskau entfernt, liegt in der äußersten Südost-Ecke von Russland. Wenn man aber ankommt und das Mythos erreicht zu haben glaubt, ist man möglicherweise enttäuscht: Die Stadt liegt nicht am Pazifik! Sondern an einer Bucht, und hinter Bucht ist erstmal das Japanische Meer.


Ivan Panfilove: "More vody" - Und nur das Meer umspült die Stadt von all ihren drei Seiten... (stalker667a)

In Bezug auf seine Nachbarn liegt Wladiwostok in einer Art Landzunge, im grenznahen Gebiet: Drei Stunden Fahrt gen Westen liegt China, wohin Russen allenfalls zum Klamottenkaufen fahren, eine halbe Stunde Fahrt gen Süden liegt Nordkorea, das man zwangsläufig meidet, vier Tage Schiffsfahrt gen Osten für 400 Dollar entfernt liegt Japan, reisetechnisch für Russen also nicht gerade praktisch zu erreichen, eine Nacht-Zugfahrt entfernt gen Norden liegt die nächste größere russische Stadt – Chabarowsk. Wladi ist damit in einer relativ isolierten Lage. Nichtsdestotrotz wimmelt es in der Stadt vor Chinesen, Koreanern und Japaneren – Studenten, Gastarbeiter, Businessleute. Die Autos sind aus Japan und haben das Steuer rechts, die Busse sind aus Korea, die grossen Strassenmärkte gehören den Chinesen. ”Europa ist uns wurscht”, sagte mir ein Wladiwostoker Russe. ”Ich war früher Diplomat und konnte ins kapitalistische Ausland reisen. Als ich in den 80ern zum Queen-Konzert wollte, bin ich nach Japan gefahren - ist schließlich viel näher als Europa. Abgesehen davon: Europa geht sowieso unter – die Zukunft liegt in Asien.”


"Wladiwostok 2000" - von der Wladiwostoker Gruppe "Mummi Troll" (x10ader)

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