Mittwoch, 30. März 2011

Das Reißverschluss-Problem

An meinem Wintermantel war der Reißverschluss kaputt. Ich ging in den kleinen Textilladen eines norwegischen Dorfes: „Könnten Sie mir ein neues Zugteil reinnähen?“ - „Hmmm, zeigen Sie mal… Nee, hier muss der ganze Reißverschluss ausgewechselt werden. Das Ding ist völlig abgenutzt. – Wir können Ihnen einen bestellen. Sobald er da ist, rufen wir an.“ Nach zwei Wochen kam der Anruf: Reißverschluss da, Kostenpunkt: umgerechnet 20 Euro.

Zum weiteren Vorgehen sagte man mir Folgendes: „Wir haben hier im Ort eine Näherin. Die macht manchmal solche Reparaturen, wenn man sie lieb darum bittet. Gehen Sie einfach in den und den Laden, lassen sich die Nummer geben, rufen sie an und machen einen Termin aus.“ Ich zögerte. Fragte mich: Wie lange wird das dauern? Und: Was kostet das?

Mir kam eine Idee: das Ding in Russland reparieren zu lassen. Nur einen Monat später fuhr ich nach Murmansk, der nächstgelegenen Großstadt. Natascha wusste von meinem Problem: Zielsicher führte sie mich in ein kleines Näh-Reparatur-Kabuffchen in einem ganz bestimmten Einkaufszentrum. Die zwei Näh-Damen dort schauten sich meinem Mantel an und meinten: „Der Reißverschluss ist völlig in Ordnung. Nur das Zugteil müssten wir auswechseln.“ - „Wie lange dauert das?“ - „Eine Viertelstunde.“ - „Und wieviel kostet es?“ - „Zweihundert Rubel.“ - Sechs Euro...

Nach besagter Viertelstunde bekam ich meinen Mantel mit tadellos funktionierendem Reißverschluss zurück: „Sie müssen sehr vorsichtig sein beim Zumachen, diese Eisen-Verschlüsse sind ziemlich empfindlich“, meinten die Näh-Damen fast mütterlich zu mir. Mein Trinkgeld wollten sie nicht annehmen. Strahlten mich stattdessen an: „Wenn mal wieder was ist – kommen Sie vorbei.“

Samstag, 5. März 2011

Leider immer wieder aktuell

Das letzte Kapitel

Am zwölften Juli des Jahres zweitausenddrei
lief folgender Funkspruch rund um die Erde:
dass ein Bombengeschwader der Luftpolizei
die gesamte Menschheit ausrotten werde.

Die Weltregierung, so wurde erklärt, stelle fest,
dass der Plan, endgültig Frieden zu stiften,
sich gar nicht anders verwirklichen lässt,
als alle Beteiligten zu vergiften.

Zu fliehen, wurde erklärt, habe keinen Zweck,
nicht eine Seele dürfe am Leben bleiben.
Das neue Giftgas krieche in jedes Versteck,
man habe nicht einmal nötig, sich selbst zu entleiben.

Am dreizehnten Juli flogen von Boston eintausend
mit Gas und Bazillen beladene Flugzeuge fort
und vollbrachten, rund um den Globus sausend,
den von der Weltregierung befohlenen Mord.

Die Menschen krochen winselnd unter die Betten.
Sie stürzten in ihre Keller und in den Wald.
Das Gift hing gelb wie Wolken über den Städten.
Millionen Leichen lagen auf dem Asphalt.

Jeder dachte, er könne dem Tod entgehn,
keiner entging dem Tod und die Welt wurde leer.
Das Gift war überall, es schlich wie auf Zehn.
Es lief die Wüsten entlang, und es schwamm übers Meer.

Die Menschen lagen gebündelt wie faulende Garben.
Andere hingen wie Puppen zum Fenster heraus.
Die Tiere im Zoo schrien schrecklich, bevor sie starben.
Und langsam löschten die großen Hochöfen aus.

Dampfer schwankten im Meer, beladen mit Toten.
Und weder Weinen noch Lachen war mehr auf der Welt.
Die Flugzeuge irrten mit tausend toten Piloten,
unter dem Himmel und sanken brennend ins Feld.

Jetzt hatte die Menschheit endlich erreicht, was sie wollte.
Zwar war die Methode nicht ausgesprochen human.
Die Erde war aber endlich still und zufrieden und rollte
völlig beruhigt ihre bekannte elliptische Bahn.

(Erich Kästner)

Gleichgültigkeit

Weder der Krieg, noch der internationale Rüstungshandel,
weder der Staatsterrorismus, noch das Fernsehprogramm,
weder die Millarden der arabischen Ölpotentaten,
noch der Generalstab einer südamerikanischen Armee,
weder die russische Mafia, noch die Pornoindustrie,
weder die Central Intelligence Agency, noch die Glacéhandschuhdiplomaten,
weder die Inquisition, noch die durchgeknallten Sektierer,
weder die Präpotenz des Weissen Mannes, noch die Korruption der Stammesfürsten,
weder die Parteifunktionäre, noch die Pressezensur,
weder der Rassismus, noch die ethnischen Säuberungen,
weder der Kapitalismus, noch der Kommunismus,
noch der Imperialismus, noch der Neoliberalismus, noch der Faschismus,
noch sonst irgend eines der zahllosen Übel des 20. Jahrhunderts
hat grösseren Schaden angerichtet
als die elende Gleichgültigkeit des kleinen Mannes auf der Strasse.

Sergio Vesely, chilenischer Dichter. Aus: "Aller Menschen Würde"

Freitag, 14. Januar 2011

Merke: Gejammert wird überall!

Auf der Fähre Popow-Insel - Wladiwostok.
Frage einer Russin:
”Leben die Menschen in Deutschland besser als die Menschen in Russland?” –
Ich:
”Materiell gesehen – sicher besser. Trotzdem aber jammern die Leute dauernd.” –
Miree aus Norwegen dreht sich zu uns um:
”Was, bei euch auch?” –
“Ja." -
"??? - Aber warum jammern den die Leute in Norwegen, das Land hat doch weltweit den höchsten Lebensstandard?” –
”Ja, aber das hat nichts zu sagen.”

Beherrscher des Ostens

Wladiwostok: ”Beherrsche den Osten”. Der Endpunkt der Transsib, 8 Tage Zugreise und knapp 10 000 km von Moskau entfernt, liegt in der äußersten Südost-Ecke von Russland. Wenn man aber ankommt und das Mythos erreicht zu haben glaubt, ist man möglicherweise enttäuscht: Die Stadt liegt nicht am Pazifik! Sondern an einer Bucht, und hinter Bucht ist erstmal das Japanische Meer.


Ivan Panfilove: "More vody" - Und nur das Meer umspült die Stadt von all ihren drei Seiten... (stalker667a)

In Bezug auf seine Nachbarn liegt Wladiwostok in einer Art Landzunge, im grenznahen Gebiet: Drei Stunden Fahrt gen Westen liegt China, wohin Russen allenfalls zum Klamottenkaufen fahren, eine halbe Stunde Fahrt gen Süden liegt Nordkorea, das man zwangsläufig meidet, vier Tage Schiffsfahrt gen Osten für 400 Dollar entfernt liegt Japan, reisetechnisch für Russen also nicht gerade praktisch zu erreichen, eine Nacht-Zugfahrt entfernt gen Norden liegt die nächste größere russische Stadt – Chabarowsk. Wladi ist damit in einer relativ isolierten Lage. Nichtsdestotrotz wimmelt es in der Stadt vor Chinesen, Koreanern und Japaneren – Studenten, Gastarbeiter, Businessleute. Die Autos sind aus Japan und haben das Steuer rechts, die Busse sind aus Korea, die grossen Strassenmärkte gehören den Chinesen. ”Europa ist uns wurscht”, sagte mir ein Wladiwostoker Russe. ”Ich war früher Diplomat und konnte ins kapitalistische Ausland reisen. Als ich in den 80ern zum Queen-Konzert wollte, bin ich nach Japan gefahren - ist schließlich viel näher als Europa. Abgesehen davon: Europa geht sowieso unter – die Zukunft liegt in Asien.”


"Wladiwostok 2000" - von der Wladiwostoker Gruppe "Mummi Troll" (x10ader)

Donnerstag, 12. August 2010

Kirkenes - Boomtown am Ende de Welt

Kirkenes ist ein Dorf in der Tundra von Norwegen, weit hinter dem Nordkap, dort, wo die Küstenlinie schon ein Stück nach Südosten abgebogen ist. Einwohnerzahl: etwa 4000. Oder ist es vielleicht doch eine Stadt? Kirkenes bietet schliesslich alles, was man so braucht: Supermärkte, Einkaufszentren, Krankenhaus, Schwimmhalle, Sportplatz, ein staatliches Weingeschäft, Kinos, Hotels, einen Flugplatz… und es ist die letze Station der Hurtigrute und damit Tourismuszentrum. Es gibt sogar ein russisches Konsulat – die russische Grenze ist immerhin schlappe 10 Kilometer Luftlinie entfernt. Ausserdem ist Kirkenes Zentrum der Barentsregion, welche die Gebiete an der Barentssee umfasst: ein Stück Nordnorwegen und Nordwestrussland, und damit Dreh- und Angelpunkt der Zusammenarbeit zwischen Norwegen und Russland. Alljährlich findet das Barentsspektakel statt, ein gigantisches Kulturfestival mit internationaler Beteiligung, das sich auf die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit der arktischen Völker konzentriert. Unter anderem dabei: das Transborder-Cafe. Hier debattieren Russen und Norweger über heisse politische Themen - ehrlich, fair, kompetent. Und: Auf Augenhöhe. Grosszügig finanziert werden solcherlei Projekte vom Barentssekretariat, welches sich selbstverständlich in Kirkenes befindet.

Seit 1991 sind immer wieder Russen zugezogen und haben eingeheiratet; inzwischen machen sie etwa 10 Prozent der Bevölkerung aus. Dazu kommen die russischen Einkaufstouristen aus den grenznahen Städten Nikel und Sapoliarny, sowie russische Seeleute, die immer mal ihre Schiffe im Hafen verankern und sich sonst im Seemannsklub vergnügen. Ein Teil dieser russischen Schiffe steht im Hafen rum und gammelt vor sich hin. Angeblich sind sie von der norwegischen Regierung „arrestiert“ worden und liegen seitdem fest, da die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind. Einmal im Monat findet in Kirkenes russischer Markt statt, mit Klamotten, Kristall- und Porzellanwaren, sowie dem obligatorischen Touristenkitsch. Richtig anheimelnd sieht der Markt im Winter aus, wenn im Dunkel der Polarnacht der Marktplatz mit einigen kleinen Funzeln beleuchtet wird. Das einzige, was man beim Vorbeigehen erkennen kann, sind die eingemummelten Babuschkas, der Schnee und das glitzernde Kristall. Einige Russen meinen sogar, Kirkenes wäre ein russisches Dorf. Warum auch nicht: Auf Schritt und Tritt hört man Russisch, ob in den Geschäften oder auf der Strasse. Verkäuferinnen sprechen oft Norwegisch mit russischem Akzent. Die Strassenschilder in Kirkenes und auf dem Weg zur Grenze sind zweisprachig: Russisch und Norwegisch.

Während die russischen Einkaufstouristen hauptsächlich zum Klamotten-Shoppen nach Kirkenes kommen, haben die Norweger weitaus vielfältigere Gründe für ihre Russland-Reisen: Das nahegelegene Murmansk lockt schon einmal mit einem gigantischen Angebot an vollen Supermärkten, an Cafes, Restaurants, Einkaufszentren, Nachtleben. Und nicht zuletzt bietet Murmansk – aus norwegischer Sicht – spottbillige Zahnärzte, Optiker, Autowerkstätten, Wellness-Bäder, Tankstellen, Frauen und Wodka. Genau das, was so mancher Norweger in Kirkenes vermisst…

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